Ich werde sterben. Du wirst sterben. Wir alle werden sterben. Das ist uns allen klar, aber wir wissen nicht, wann es soweit sein wird. Die Ungewissheit über den Zeitpunkt unseres Todes hat wahrscheinlich ihr Gutes. Wahrscheinlich wäre die Gewissheit noch schwerer zu ertragen als die Ungewissheit, denn dann würde der Tod das Leben viel deutlicher überschatten. So können wir die Tatsache, dass wir irgendwann sterben werden noch ganz gut verdrängen. Aber unser Leben zu planen wird dadurch natürlich schwieriger. Wenn ich wüsste, dass ich morgen stürbe, oder nächste Woche, oder in einem Jahr, oder in 60 Jahren, würde ich wahrscheinlich – je nach Situation – andere Entscheidungen treffen. Aber ich weiß nicht, wann ich sterbe. Ich muss also für eine Zukunft planen, um zum Beispiel abgesichert zu sein, die ich vielleicht gar nicht erlebe. Und die Zeit, die ich jetzt auf scheinbar wichtige Dinge verwende, hätte ich anders nutzen können, wenn ich wissen würde, dass es jene Zukunft für mich gar nicht gibt. Wie kann man aber dann sein Leben so gestalten, dass man am Ende sagen kann: „Ich hatte ein gutes Leben.“?
Ich hatte vor ein paar Tagen die seltene Gelegenheit einen langen Spaziergang zu machen und zwar ganz alleine und ohne zeitliche Beschränkung. Und während ich im absoluten Schneckentempo einen Fuß vor den anderen setzte, mal hier und mal dort stehenblieb und ziellos in schöner Natur herumstreifte, konnte ich nachdenken und meinen Gedanken aufmerksam lauschen. Ich entschied mich genau dieses Thema zu verfolgen, denn es wartete bereits eine ganze Weile in meinem Hinterkopf auf eine Gelegenheit in Ruhe ergründet zu werden. Wenn man aber anfängt sich über das Leben Gedanken zu machen, dann lauert da auch immer sein Gegenspieler, der Tod. Und während ich spazierte, lud der Tod mich dazu ein mein Leben einmal von seinem Standpunkt aus zu betrachten.
In einem Gedankenexperiment stellte ich mir also vor, ich sei am Ende meines Lebens angekommen und würde auf mein Leben zurückblicken. Ich ließ dabei den genauen Zeitpunkt offen.
Was würde ich dann gerne sehen?
Als Erstes fielen mir meine Kinder und mein Mann ein. Am Ende meines Lebens möchte ich gerne sagen können, dass meine Kinder und mein Mann sich von mir geliebt fühlten. Manchmal vergesse ich im Alltagstrott und Stress, wie wichtig mir das ist. Ich habe mir also vorgenommen, vor allem die Kindheit meiner Kinder und die Zeit mit meinem Mann so schön wie möglich zu gestalten: mit viel Lachen, viel Gemeinsamkeit, viel Wärme und viel ungeteilter Aufmerksamkeit. Und ich habe mir vorgenommen, mich nicht durch unwichtige Dinge (Erreichen irgendwelcher Ideale, Stress, To-Do Listen, etc) von diesem Ziel abbringen zu lassen. Dass meine Familie sich von mir geliebt fühlt ist ein Kernelement, das mit darüber entscheidet, ob ich mein Leben gut gelebt oder vergeudet haben werde.
Als nächstes fiel mir mein Buch ein. Bevor ich zu dem Spaziergang aufgebrochen bin fühlte ich mich ein wenig deprimiert. Ich hatte bereits einiges an Zeit und Energie in den ersten Teil meines Buches gesteckt, musste aber feststellen, dass die Qualität noch ziemlich zu wünschen übrig lässt. Ich fühlte mich ein wenig mutlos, da ich schätzte, dass die Überarbeitung noch sehr viel Zeit in Anspruch nehmen würde, und ich ständig das Gefühl habe, für nichts genügend Zeit zu haben. Jetzt stellte ich mir vor, ich würde morgen sterben und ich hätte mein Buch nicht beendet. Wäre das schlimm? Tatsächlich stellte ich fest, dass ich es nicht bereuen würde. Ich bin jenen Autoren dankbar, die Bücher geschrieben haben, die mich bewegt, unterhalten oder inspiriert haben, und wenn ich kann, würde ich auch gerne so ein Buch schreiben um etwas zurückzugeben, meinen Teil beizutragen. Aber wenn das nicht klappen sollte, dann weiß ich doch, dass es genug andere Schriftstellerinnen da draußen gibt, die diese Aufgabe übernehmen werden. Das Schreiben an sich jedoch ist mir sehr wichtig (Kernelement), weil es mir Spaß macht und mir Energie gibt und ich würde bereuen, mir nicht Zeit fürs Schreiben genommen zu haben. Aber ich brauche nicht betrübt zu sein, weil ich mit meinem Buch immer noch am Anfang stehe, denn seine Vollendung ist kein Kernelement, welches darüber entscheidet, ob ich mein Leben gut gelebt habe. Diese Erkenntnis gibt mir die nötige Gelassenheit um mich wieder mit Freude auf mein Herzprojekt zu stürzen, an ihm zu feilen und weiterhin das Schreiben zu üben, bis das Buch die Qualität erreicht, die es verdient. Und vielleicht lebe ich ja doch lange genug, dass es für eine Veröffentlichung reicht 😉
Es gibt noch viele weitere Dinge, die ich gerne sehen möchte, wenn ich auf mein Leben zurückblicke. Zum Beispiel, dass ich für meine Familie und meine Freunde da war, wenn sie mich brauchten. Dass ich nicht nur an mich gedacht habe, sondern meine Wünsche auch mal für andere zurückstecken konnte und mich für jene stark gemacht habe, die meine Unterstützung gut gebrauchen konnten. Ich möchte sehen, dass ich gute Werte vertreten und nach ihnen gelebt habe. Ich fände es schön zu sehen, dass ich viele schöne und spannende Dinge gesehen und erlebt habe. Dass ich bis zum Ende dazu gelernt und weiser geworden bin. Ich möchte noch reisen und Dinge erleben. Ich möchte einfach noch so viel. Das genaue Ziel meiner Reisen und das, was ich erleben und lernen möchte sind jedoch unbestimmt. Dies sind eher die Bonus-Dinge, die ich gerne mitnehme, die aber nicht essentiell sind. Sie bereichern mein Leben und machen es bunter. Es geht mir vor allem darum mit offenen, interessierten Augen durchs Leben zu gehen und die Schönheit im Alltag zu sehen. Und während ich mein Leben mit schönen Dingen fülle, werde ich versuchen die mir wichtigen Kernelemente nicht aus den Augen zu verlieren.
Und was ich wirklich unbedingt sehen möchte ist, dass ich viel gelacht habe und ausgelassen und fröhlich war (Kernelement). Ich bin mir dessen bewusst, dass ich unter sehr glücklichen Bedingungen lebe (Gesundheit, Frieden, finanzielle Versorgung, Ausbildung, etc.) und ich würde es bereuen, wenn ich diese guten Voraussetzungen nicht für ein heiteres Leben genutzt, sondern mit Blödsinn vergeudet hätte.
Was möchte ich also nicht sehen, wenn ich auf mein Leben zurückblicke?
Ich möchte nicht sehen, dass ich mich unnötig gestresst habe. Mir fällt es immer mal wieder auf, dass ich Idealen hinterherjage, die eigentlich großer Blödsinn sind. Ich werde am Ende meines Lebens nicht denken „Wie gut, dass mein Haus immer so ordentlich aufgeräumt war“ oder „Wie effizient ich doch die To-Do Listen abgearbeitet habe!“ oder „Wie gut, dass ich niemals Fehler gemacht habe“. Ich möchte am Ende meines Lebens nicht erkennen müssen, dass ich mir Erwartungen von außen zu eigen gemacht habe und mich unter Druck habe setzen lassen, wobei ich ein viel entspannteres und fröhlicheres Leben hätte führen können. Oft wird einem zudem suggeriert, dass man immer irgendetwas tun muss, sich immer mit irgendetwas beschäftigen muss, damit man sein Leben nicht vergeudet, oder schlimmer noch, faul oder langweilig ist. Aber der Glaube „Du bist gestresst, das heißt du arbeitest viel, das heißt du bist wertvoll“ hat mit meiner Idee von einem guten Leben nichts gemein. Ich möchte immer noch ein aufgeräumtes Haus haben, aber einfach weil es mich nervt so viel Zeit beim Suchen zu verlieren. Und To-Do Listen nutze ich, um meinen Kopf von mental load zu befreien, und nicht, um mich zusätzlich zu stressen. Und Fehler und Misserfolge gehören zum Leben dazu. Im besten Fall lernt man eine wichtige Erkenntnis, und die allermeisten werden am Ende meines Lebens entweder völlig nichtig, oder komplett aus meiner Erinnerung verschwunden sein. Ich möchte lernen und ich möchte Neues erfahren und ausprobieren und dazu gehört eben auch mal in die falsche Richtung zu laufen. Ich hoffe einfach, dass ich auf meinen Um- und Irrwegen interessante Dinge zu sehen bekomme.
Und damit ich nicht bereuen muss, mir das Leben unnötig schwer gemacht zu haben, möchte ich unbedingt daran arbeiten, gelassener zu sein und einfach die Schultern zu zucken (Es ist, was es ist), statt krampfhaft zu versuchen, etwas durchzudrücken (Kinder sind tolle Übungspartner, die reagieren nämlich überhaupt nicht mehr, wenn man anfängt zu stressen, was einen gerne noch gestresster werden lässt :D). Ich möchte viel mehr im Hier und Jetzt sein, statt ständig mit meinem Kopf woanders. Deswegen möchte ich mich stärker ins Thema Mindfulness hineinarbeiten und versuchen, mehr zu leben, statt zu funktionieren. Ich möchte zudem viel öfter langsam laufen, im wörtlichem wie übertragenem Sinne. Langsam ist mein ganz eigenes Tempo. Der Spaziergang im Schneckentempo war genau das Richtige für mich. Ich war im Einklang mit mir selbst, und das kann ich nur sein, wenn ich nicht versuche, mit einer mir uneigenen Geschwindigkeit mitzuhalten. Das ist wie beim Schwimmen. Ich kann stundenlang schwimmen, wenn ich mein eigenes Tempo anhalte. Versuche ich mit jemand anderes mitzuhalten finde ich keinen Rhythmus und verliere in kürzester Zeit all meine Energie. Ich kann nichts dafür, dass die Welt sich so schnell dreht, mein Tempo ist es jedenfalls nicht. Wenn ich physisch wie mental gesund bleiben möchte, und mein Leben genießen möchte, muss ich meinen eigenen Rhythmus berücksichtigen.
Wenn ich meine Kernelemente kenne und beherzige, brauche ich keine Angst haben, am Ende etwas zu bereuen, egal wie lang mein Leben ist.
Ich bin mir dessen bewusst, dass die Dinge, dir mir wichtig sind, in meinem Kopf an Wichtigkeit gewinnen und verlieren, und nicht unbedingt im Außen. Wenn ich mich und mein Leben vom Weltall aus betrachte, dann zählt das alles nicht viel mehr als ein Flohpups. Wenn die Menschheit sich entgegen meiner Erwartungen (oder gemäß meiner Erwartungen, ich schwanke da manchmal) doch selbst vernichtet, dann dreht sich die Erde halt ohne sie weiter. Aber mir sind Klimaschutz, oder besser gesagt, Menschenschutz/Artenschutz eben wichtig und dementsprechend möchte ich Entscheidungen treffen. Ob mein Leben gut genutzt oder verschwendet sein wird, wird im Großen Ganzen der Existenz aller Dinge egal sein, und ob ich überhaupt auf mein Leben zurückblicken kann oder tot bin, bevor ich weiß, was mit mir geschieht ist natürlich auch die Frage, aber hereingezoomt in mein Leben und mit der Frage konfrontiert, wie ich mein Leben sinnstiftend gestalten kann, hilft mir dieses Gedankenexperiment ungemein.
Ich werde versuchen immer mal wieder inne zu halten und dieses Gedankenexperiment durchzuführen um herauszufinden, was mir wichtig ist und wie ich die Kernelemente schon jetzt in meinem Alltag beherzigen kann, damit ich nicht irgendwann erkennen muss, dass mein Leben kürzer ist als erwartet und ich die mir geschenkte Zeit mit Dingen vertan habe, die sich im Nachhinein als belanglos herausstellen, und die mich von dem abhielten, was ich eigentlich immer hatte tun wollen. Ich habe nun das Gefühl klarer zu sehen und die Prioritäten schon besser zu setzen um mein Ziel zu erreichen. Ich glaube, wenn ich stürbe und ich hätte bis dahin meine Kernelemente beachtet, hätte mich im Spiel mit meinen Kindern verloren statt im Kopf ganz woanders zu sein, hätte meinem Mann wirklich zugehört wenn er mir etwas mitteilen wollte und ihn oft gedrückt, hätte meinen Lieben gesagt, was sie mir bedeuten, hätte mir Zeit für die Dinge genommen, die mich erfreuen, hätte mich von Dingen distanziert, die mir nichts bedeuten, hätte mich nicht wegen Dingen stressen lassen, die genau betrachtet völlig belanglos waren, und hätte mich authentisch durchs Leben bewegt, dann würde ich nichts bereuen und dankbar sein für mein Leben, egal wie lang es letztendlich gewesen wäre. Jetzt stellt sich nur die Frage: Wie sieht ein gelungenes Leben für dich aus, und bist du auf dem richtigen Kurs?
