Ich habe lange damit gekämpft, dass es Momente gibt, in denen ich körperliche Reaktionen habe, die ich mit meinem Verstand nicht unter Kontrolle bringen kann. Zum Beispiel, dass ich furchtbar nervös werde, wenn ich einen Vortrag halten soll, oder tausend Mal schlimmer, wenn es um eine mündliche Prüfung geht (da setzt mein Verstand ziemlich komplett aus, da ist mein Motto eher “Augen zu und durch”, was nicht sehr zielführend in einer Prüfung ist). Aber vor allem hat es mich sehr genervt, wenn mir die Tränen kommen, obwohl ich weiß, dass alles gar nicht so schlimm ist. Dann sage ich mir, dass ich nicht weinen muss, dass es gar nicht so schlimm ist, dass ich mal wieder völlig überreagiere. Und ich komme mir blöde vor, weil ich wieder von Gefühlen übermannt werde, statt sachlich an die Sache heran zu gehen. Und das sollte ich doch inzwischen können, nicht wahr? Schließlich bin ich erwachsen. Ich sollte Möglichkeiten haben Probleme zu lösen, ohne gleich in Tränen auszubrechen. Wenn ich alleine bin, kann ich es meistens noch ganz gut, aber wehe ich soll jemandem, während ich mich in in diesem kritischen Zustand befinde, erklären, was Sache ist. Dann ist es aussichtslos und die Tränen kullern und ich versuche gleichzeitig zu versichern, dass alles gar nicht so schlimm ist, nur ich eben sehr nahe am Wasser gebaut bin und mein Gegenüber soll die Tränen wenn möglich einfach ignorieren.
Und dann habe ich meinen jetzigen Mann kennen gelernt, und er war der erste, der anscheinend völlig okay damit ist, wenn ich weine. Als ich mal wieder sagte, dass er meine Tränen ignorieren sollte, meinte er, dass ich ruhig weinen könne, es würde ihm nichts ausmachen und danach würde ich mich sicher schon besser fühlen. Bang. So einfach. Jetzt durfte ich weinen, ohne mich dafür zu entschuldigen. Und, es tat gut!
Ich habe über den Konflikt zwischen meinen widerspenstigen körperlichen Reaktionen (Angstschweiß vor Vorträgen, Kloß im Hals und Tränen bei Enttäuschung oder Überforderung etc.) und meinem Verstand (das kann man doch sachlich regeln!) nachgedacht und festgestellt, dass meine körperlichen Reaktionen nicht das Problem sind! Es ist eher der Versuch diese zu unterdrücken, sie zu problematisieren, sie als Versagen zu betrachten, statt sie einfach zu akzeptieren. Nicht das Gefühl belastet mich, sondern der Versuch, sie mit meinem Verstand irgendwie unter Kontrolle zu bekommen, und wenn das misslingt, mich als Versager wahrzunehmen. Wieder nicht geschafft!
Sehen wir das doch einmal wirklich sachlich. Ich werde nervös vor Vorträgen. Völlig egal, dass ich weiß, dass nur nette Menschen im Publikum sitzen. Völlig egal, dass ich weiß, dass ich gut vorbereitet bin. Völlig egal, dass es nicht einmal um irgendetwas wie eine Note oder Ähnliches geht. Ich werde trotzdem nervös. Und? Ist doch okay. Dann bin ich eben nervös. Sobald ich nicht mehr versuche, nicht-nervös zu sein, und kläglich scheitere, sondern einfach hinnehme, dass ich jemand bin, der nervös wird, wenn er eine Präsentation halten muss, wird alles schon viel weniger schlimm. Dann brauche ich nur die Nervosität auszuhalten, nicht noch Gefühle des Scheiterns.
Und wenn ich weine, warum auch immer, dann weine ich eben. Mein Körper reagiert so, anscheinend braucht er das gerade. Ein Ventil für Anspannung wahrscheinlich. Und wenn ich die Anspannung so los werden kann ist das doch eigentlich ziemlich cool. Besser als wenn ich irgendwo rein schlage oder es in mich rein fresse.
Aber wo kommt es eigentlich her, dass ich denke, ich müsste mich derart im Griff haben? Und dass ich diesen Konflikt zwischen Gefühl und Verstand habe? Warum habe ich nicht einfach immer meine Gefühle akzeptiert und hingenommen? Warum meinte ich, gegen sie ankämpfen zu müssen?
Wäre ich ein einzelner Mensch auf diesem Planeten würde ich viele Dinge wahrscheinlich anders tun. Ich würde wahrscheinlich öfter mal nackt oder halbnackt durch die Gegend laufen, ich würde einfach mal schreien, wenn ich Bock drauf hätte, ich würde längere Zeit einfach nicht duschen, ich würde wahrscheinlich über all die zwischenmenschlichen Themen nicht nachdenken, ich hätte so viel Zeit! Aber worauf ich eigentlich hinauswollte, ich würde wahrscheinlich einfach weinen, wenn mir danach wäre, ohne groß darüber nachzudenken. Ich würde meine Gefühle wahrscheinlich einfach hinnehmen, da ja nur ich da wäre, und sie niemand anders unbequem sein könnten. Mein Punkt ist, wahrscheinlich habe ich gelernt, dass man nur weint, wenn etwas wirklich Schlimmes passiert ist. Zum Beispiel, wenn jemand gestorben ist, oder eine Beziehung in die Brüche geht oder dergleichen. Also wirklich schlimme Dinge. Weinen, weil man wegen etwas traurig ist, das nicht in diese „wirklich schlimm“ Kategorie fällt, geht halt nicht. Wenn man das tut, hat man sich nicht unter Kontrolle, man ist verweichlicht, oder schlimmer noch, versucht zu manipulieren. Oh, das letzte ist ein wichtiger Punkt! Ich hatte manchmal Angst als Manipulator betrachtet zu werden, deswegen ja meine Versicherungen, dass es nicht so schlimm sei und man meine Tränen ignorieren möge.
Ich versuche jetzt, wenn ich von Gefühlen drohe übermannt werden, die Gefühle anzuerkennen. Statt zu sagen „Es ist nichts!“, sage ich mir jetzt „Da ist etwas, sonst würde ich ja nicht so reagieren.“
Dieses Akzeptieren meiner Gefühle habe ich vor allem jetzt gelernt, da ich selbst Kinder habe. Mir ist aufgefallen, dass ich, wenn meine Kinder weinen oder anders unruhig sind, sie tröste und ihnen sage, dass alles wieder gut wird. Ich sage niemals, dass es keinen Grund gibt, schlecht gelaunt zu sein, zu quietschen oder zu quengeln, denn beim Baby und Kleinkind erkenne ich an, dass sie irgendetwas belastet, sonst würden sie sich ja nicht so verhalten, wie sie es tun. Ich erinnere mich an eine Szene, als mein älterer, damals vielleicht eineinhalb Jahre alt, nicht gut drauf war und mein Vater sagte „boah, der schauspielert aber, mannoman. Schau, wie der schauspielert.“ Ich habe entgegnet, dass er nicht schauspielert, sondern ihn irgendetwas stört, was er noch nicht in Worte fassen kann. Letztens eine ähnliche Szene. Mein Sohn, inzwischen zweieinhalb Jahre alt, wollte etwas haben, das ich in der Hand hielt und ihm nicht geben wollte. Ich weiß nicht mehr, was es war. Er tat seine Enttäuschung kund, mein Vater rief laut „Hey. Stell dich mal nicht so an!“ Danach folgte ein kleiner Tumult, denn das konnte ich echt nicht haben, dass meinem Kind gesagt wurde, es solle sich nicht „so anstellen“. Meinem Vater tat es sofort Leid, überhaupt etwas gesagt zu haben, er hatte sich doch vorgenommen, sich nicht in die Erziehung einzumischen, und wollte eigentlich die Sache sofort abhaken. Doch ich wollte ihm unbedingt klar machen, warum ich genau diesen Satz so gefährlich finde. Er suggeriert nämlich, dass jemand eigentlich keinen Grund hat, zum Beispiel enttäuscht zu sein. Wiederholen sich solche Szenen, man zeigt sein Gefühl und bekommt das Feedback, dass das Gefühl falsch sei, zweifelt man doch irgendwann zwangsläufig an seiner Einschätzung der Dinge. Und dann sagt man zu sich selbst „So schlimm ist das nicht! Beruhige dich mal wieder! Stell dich ja nicht so an!“ Ich will nicht sagen, dass mein Vater Urheber dieses Konflikts ist, aber es sind Kommentare wie diese, die in ihrer Gesamtheit diesen Konflikt heraufbeschwören.
Mein Vater hat mir einmal erzählt, dass er genauso nahe am Wasser gebaut sei, und auch schnell in Tränen ausbrechen würde. Ich kann mich nicht wirklich daran erinnern, ihn je weinen gesehen zu haben. Vielleicht hat er es gut versteckt, weil man ja nicht in der Öffentlichkeit weint. Ich vermute, dass er mit genau solchen Kommentaren aufgewachsen ist. Dass er sich nicht so anstellen soll. Wäre es nicht schön, wenn wir in einer Gesellschaft leben würden, in der es völlig okay wäre, wenn man weint, wenn man sich traurig oder überfordert fühlt, ohne das Gefühl zu haben, sich verstecken oder entschuldigen zu müssen?
Bei meinen Kindern achte ich da, wie gesagt, sehr darauf solche Dinge nicht zu sagen. Wenn sie schlecht drauf sind, überlege ich, was die Ursache sein könnte. Oft brauche ich nicht lange suchen. Hunger oder Müdigkeit erklären schon einiges. Aber wenn der Grund nicht so naheliegend ist, nehme ich sie trotzdem ernst, auch wenn ihr Verhalten mitunter anstrengend ist. Ich realisiere, dass sie noch nicht eloquent in Worte fassen können, was sie wurmt. Und ich tröste sie und sage ihnen, dass alles wieder gut wird. Ich sage nicht, dass alles gut ist, denn das ist es ja nicht, sonst würden sie nicht weinen, und ich möchte diesen Konflikt nicht einführen. Stattdessen sage ich, dass alles wieder gut wird. Und mein Großer spricht es mir schon nach. Wenn er sich verletzt hat, sagt er „Alles wieder gut“.
Und jetzt da ich so bedürfnisorientiert erziehe, schaue ich auf mein Verhalten mir selbst gegenüber und finde, dass ich mir selbst gegenüber auch ruhig nachsichtiger sein darf. Wenn ich weine, dann wurmt mich auch etwas, und wahrscheinlich weine ich, weil ich es nicht in Worte fassen kann. Irgendwo habe ich einmal gehört, dass Weinen nach außen hin signalisiert, dass man Hilfe braucht. Vielleicht ist das ein recht kluger built-in Mechanismus, der, wenn man sich mit Worten nicht verständlich machen kann, dennoch deutlich angibt, dass es einem nicht gut geht und man Unterstützung, eine Umarmung oder Ähnliches gerade gut gebrauchen könnte.
Die Auseinandersetzung mit diesem Thema hat immerhin schon zwei erfreuliche Momente zuwege gebracht. Nummer Eins, als ich vor einer Weile mit meiner Mutter einen sehr unerfreulichen Streit hatte und am Telefon ordentlich geschluchzt habe, meinte meine Mutter, ich solle mal aufhören zu weinen. Es gibt verschiedene mögliche Gründe, warum sie das gesagt haben könnte. Automatismus, etwas das einfach gesagt wird, wenn jemand weint. Oder weil sie als meine Mutter es nicht gut ertragen kann, wenn ich weine. Oder weil sie findet, dass man deswegen nicht weinen braucht. Oder, oder, oder. Jedenfalls habe ich dann nicht versucht, meine Tränen zu unterdrücken, sondern ihr einfach gesagt, dass ich traurig bin und nun einmal weine, und sie mir nicht sagen soll, dass ich aufhören soll, das könnte ich nämlich nicht so einfach abstellen. Und das so zu sagen, es zu akzeptieren, hat sich gut angefühlt.
Und Nummer Zwei, ich hatte mit einer Nachbarin darüber gesprochen, dass ich versuche die Gefühlsäußerungen meiner Kinder ernst zu nehmen um eben diesen Konflikt, wenn möglich, nicht aufzubauen. Sie sagte, dass sie auch versuchte, dies zu tun. Kurze Zeit später kam sie noch einmal auf unser Gespräch zurück und erzählte, dass ihre Tochter während des Essens viel seufzte und komisch drauf war. Sie hatte dann nachgefragt, was los sei, bekam aber keine Antwort. Als sie fragte, ob sie es nicht in Worte fassen könnte, nickte ihre Tochter. Und als sie dann fragte, ob eine Umarmung vielleicht helfen würde, wurde dies dankend angenommen. Und danach, so meine Nachbarin, verlief der Tag richtig gut und sie meinte, dass unser Gespräch sie dafür sensibilisiert hatte, das Verhalten ihrer Tochter nicht einfach als nervig abzutun, sondern ernst zu nehmen und einfühlsamer zu reagieren.
Ich denke, dass wir uns oft das Leben unnötig schwer machen, wenn wir so viel Energie darauf verwenden gegen etwas anzukämpfen, das eigentlich nur dann zum Problem wird, wenn wir es als problematisch beurteilen. Hast du vielleicht auch etwas, das du an dir selbst nicht magst, und was du versuchst (erfolglos) zu unterdrücken oder los zu werden, und was eigentlich gar nicht so schlimm ist, sobald man es akzeptiert? Wenn ja, dann hoffe ich, dass du einen Weg findest, dieses Etwas einfach mit einem Lächeln und einem Schulterzucken hinzunehmen.