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10+ Tipps für mehr Biodiversität im Garten

Die Masse der Insekten ist binnen 30 Jahren um 75 Prozent geschrumpft.

(https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0185809)

Meine Kinder sind zu jung – sie kennen nur saubere Windschutzscheiben – aber ich kann mich noch an die insektenverklebten Windschutzscheiben nach einer Sommer-Autofahrt in meiner Kindheit erinnern. Ihr Fehlen ist mir nicht aufgefallen. Bis ich diese Zahlen las.

Schwebefliege

Als ich vorletztes Jahr anfing meinen Garten insektenfreundlich einzurichten, waren mir diese Zahlen jedoch noch nicht bekannt, obwohl sie anscheinend 2017, als die Studie veröffentlicht wurde, wie eine Schockwelle um die Welt gingen. Ich wollte einfach Insekten in den Garten locken, damit er lebendig würde und weil ich schlicht und einfach fasziniert von ihnen bin: Ihre Vielfalt, ihre Schönheit, einfach toll! Je mehr ich über sie erfahre, desto faszinierter bin ich von ihnen. Selbst Läuse sind spannend! (Spotify – Garten Radio: Fundatrix und die schwarze Legion – 152)

Dass es derart schlecht um Insekten bestellt ist, ist nicht nur ein Problem für Insektenliebhaber wie mich, denn wenn Insekten fehlen, gerät das gesamte Ökosystem aus dem Gleichgewicht. Insekten dienen nicht nur als Futter für andere Tiere (zB. Vögel), sie werden auch benötigt, um Pollen von einer Blüte zur anderen zu tragen. Viele Nahrungspflanzen und andere Gewächse können sich erst danach vermehren oder Früchte tragen. Die Bestäubung ist für mehr als 75 % der Lebensmittelkulturen, insbesondere für Obst und Gemüse, notwendig.

Wir alle sind mit Klimaveränderunng und dem Verlust von Biodiversität konfrontiert und oft macht sich ein Gefühl von Ohnmacht breit. Einen insektenfreundlichen Garten anzulegen ist nicht die Lösung und mag gemessen am großen Ganzen unbedeutend wirken. Dennoch ist es etwas, was man tun kann um den Insekten immerhin ein wenig Lebensraum zurückzugeben. Und etwas tun ist besser als nichts tun, oder?

Sonnenblume mit Gästen

Beim Anlegen eines insektenfreundlichen Garten sind jedoch ein paar Dinge zu beachten und wenn man sich einmal in das Thema einliest, kann einem ganz schön der Kopf flirren vor lauter Informationen die auf einen einprasseln. Welche Pflanzen sind denn überhaupt nützlich für Insekten? Wie setzt man Zwiebeln in die Erde? Es gibt auch schlechte Insektenhotels? Welche Pflanzen wachsen in meinem Garten und ist meine Erde eher nass oder trocken? Einige Dinge habe ich zunächst falsch gemacht und erst später erfahren, wie man es besser machen kann. Falls du deinen Garten auch insektenfreundlich(er) gestalten möchtest findest du hier eine erste Übersicht mit Tipps und Vorschlägen, damit du zum einen eine Richtschnur an die Hand bekommst und dich nicht völlig überfordert fühlst, und zum anderen meine Fehler nicht wiederholst. Sie ist sicherlich nicht vollständig und du wirst nach und nach immer mehr dazu lernen und das neue Wissen entsprechend eigener Vorstellungen und Wünschen anwenden können.

Stockrose voller Pollen

Ich bin übrigens eine faule Gärtnerin, die zwar einen grünen, lebendigen Garten haben möchte, jedoch mit möglichst wenig Arbeit. Daher war mein Motto „Wenn eine Pflanze in meinem Garten nicht überlebt, dann hatte sie eh nichts darin verloren.“ 😉 Meine Vorschläge sind deswegen auch alle relativ leicht umsetzbar. Die meiste Arbeit ging in die Recherche, und viele der Ergebnisse dieser Recherche möchte ich hier teilen, um dir den Einstieg ein bisschen einfacher zu machen. Letztendlich ist Gärtnern gar nicht so schwierig. Die Natur hat es eh am liebsten wenn man sie weitesgehend in Ruhe lässt. Die Entlohnung, nämlich ein lebendiger Garten mit wunderschönen, flatternden, krabbelnden und summenden Erdenbewohnern ist jedenfalls wahrlich wundervoll und der Mühe wert!

(Alle Bilder stammen – bis auf das Bild ganz oben, das ist vom Bienen-Garten meiner Nachbarin – aus meinem eigenen Garten. Falls die Bilder zum Text passen ist das Zufall, und falls sie nicht passen war das auch gar nicht beabsichtigt 😉 Für die Richtigkeit der Namen von Pflanzen und Tieren übernehme ich keine Gewähr)

Und jetzt geht´s los:

Nahrung

Sonnenhut mit Besuchern

1) Biologische Pflanzen.

Kaufe am besten nur Pflanzen, Blumenzwiebeln und Blumensaden die ohne Einsatz von Pestiziden gezüchtet wurden. Da denkt man, man tut den Insekten etwas Gutes und setzt eine schöne Pflanze aus dem Gartencenter in den Garten, und muss dann erfahren, dass man die Hummel nicht nur nährt, sondern diese gleichzeitig auch vergiftet. Das war ja nicht Sinn de Sache! In manchen Gartenzentren gibt es Pflanzen ohne Pestizide, da muss man aber ganz genau suchen. Im Internet findet man biologische Gärtnereien, die tweilweise auch Pflanzen und Blumenzwiebeln zuschicken, ansonsten muss man zu ihnen hinfahren. Man kann auch von Freunden/Bekannten oder via Gruppen im Internet Stecklinge und Samen erhalten, die aus giftfreien Gärten stammen.

Nachtkerze

2) Einheimische Pflanzen.

Die meisten Insekten sind auf einheimisches “Unkraut” angewiesen. Der Schmetterling trinkt zwar auch gerne vom (exotischen) Sommerflieder, aber wenn die Raupe kein „Unkraut“ hat um sich dick zu fressen, gibt es den Schmetterling womöglich erst gar nicht. Zudem gibt viele Blumen, die zwar ganz hübsch aussehen, die aber für Insekten völlig uninteressant sind. Zum Beispiel sind gefüllte Blüten (etwa gefüllte Dahlien) nutzlos, da die Insekten gar nicht an den Nektar heran kommen. Manche Pflanzen sind überdies steril (zum Beispiel Hortensien) und produzieren keine Pollen und Nektar. Sie sind zwar bei Menschen beliebt, für Insekten sind sie nutzlos und eigentlich nur eine Platzverschwendnung.

Allium sphaerocephalon

3) Das ganze Jahr rund.

Bienen und Hummeln brauchen schon früh im Frühjahr Nektar und Pollen. Setze deswegen im Herbst, vor dem ersten Frost, also im Oktober oder November, biologische Blumenzwiebeln in die Erde, die im Frühling die ersten Insekten zuverlässig mit Nahrung versorgen. Besonders eignen sich unter anderen Krokusse, kleine Traubenhyazinthen, wilde Tulpen, und Allium, die etwas später blühen. Die Blumenzwiebeln lassen sich prima zwischen die Stauden setzen (Faustregel: Die Zwiebel muss zwei- bis dreimal so tief in die Erde, wie sie dick ist, und die Spitze sollte nach oben zeigen). Stauden, also Pflanzen, die viele Jahre überdauern, versorgen die Insekten im Sommer mit Nahrung. Und auch im Herbst blühen noch Phacelia (im Juni/Juli aussähen), Astern oder Ringelblumen und viele mehr. Wichtig ist es also Pflanzen so zu wählen, dass sie ab frühem Frühling bis späten Herbst Nahrung für die Insekten bereithalten, damit sie nicht im Frühling oder Herbst verhungern, sondern die Möglichkeit bekommen sich satt zu fressen und sich zu vermehren.

Intermezzo: Lieblingspflanzen, die sich bewährt haben

Lieblingsinsekt (Hummel) auf Lieblingsblume (Knautia arvensis)

Ein paar meiner Lieblingspflanzen, auf die auch die Insekten fliegen:

Gewöhnliche Natternkopf (Echium vulgare), Gewöhnliche Wegwarte (Cichorium intybus), Buchweizen, Kugelköpfiger Lauch (Allium sphaerocephalon) und Acker-Witwenblume (Knautia arvensis), Katzenminze (Nepeta), Sonnenblume, Nachtkerze (Oenothera glazioviana), Rote Spornblume (Centranthus ruber), Gewöhnliche Stockrose (Alcea rosea), Gewöhnliche Braunelle (Prunella vulgaris), Steppen-Salbei (Salvia nemorosa) und Passionsblume (Passiflora).

Wohnen

Gut besuchtes Insektenhotel

4) Insektenhotels.

Der Standort sollte stets nach Süden ausgerichtet sein, und möglichst den ganzen Tag Sonne abbekommen. Achte darauf, dass die Eingänge des Insektenhotels sauber und glatt verarbeitet sind und nicht (wie leider in vielen Baumärkten und Gartenzentren zu finden) die Flügel der Insekten zerreißen könnten. Außerdem sollte kein (giftiger) Leim aus dem Hotel herausquillen (alles schon gesehen). Am besten ist es, wenn die Hotels auch vor Regen geschützt sind, zum Beispiel durch einen zusätlich angebrachten Balken, der als Dach dient und den Regen abhält. Dann hält auch das Holz der Hotels länger und sie fangen nicht an zu modern.

Minzenmotte

5) Nachts alle Lichter aus.

Schalte nachts das Licht im Garten aus. Für die nachtaktiven Insekten und Tiere sind nächtliches Licht schädlich und störend. Wenn man sich tagsüber schon viel Mühe gibt es den Tieren im Garten gemütlich zu machen, sollte man sie nachts auch schlafen lassen, beziehungsweise die nachtaktiven Tiere nicht durch künstliche Lichtquellen in die Irre führen. Wo Licht notwendig ist, benutze nach unten gerichtetes, gelbes Licht, und Bewegungsmelder. Weiterlesen: https://www.mdr.de/mdr-garten/gestalten/licht-insekten-schutz-lichtverschmutzung-tipps-102.html

Marienkäfer a.k.a Läusevertilger

6) Keine Pestizide, kein Gift.

Was nicht gefressen wird, ist nicht Teil des Kreislaufs und damit nutzlos. Eine „Läuseplage“ wird bald durch Marienkäfer und Schlupfwespen unter Kontrolle gebracht, ohne das man mit der Giftkeule kommen muss. Man braucht nur etwas Geduld. Zudem muss auch die Pflanze stärker werden, und das wird sie, wenn man sie einfach in Ruhe machen lässt. Und wer Schnecken abwehren möchte kann Löcher in den Zaun sägen, um den Weg für Igel frei zu machen, damit sie die Schnecken einfach wegfressen (siehe weiter unten). Gifte vergiften nicht nur die Tiere, auf die man es abgesehen hat (und auch diese erfüllen wie gesagt eine Funktion im Kreislauf der Natur), sondern auch viele andere Tiere (Igel, Katzen) und das Gewässer.

Intermezzo: Praktische Apps

Eintagsfliege

Es gibt Apps, die einem dabei helfen die Insekten und Pflanzen in der Natur zu bestimmen. In den Niederlanden benutze ich ObsIdentify. Das ist praktisch, wenn man nicht weiß ob man es mit einem wuchernden Gewächs zu tun hat, das man vielleicht doch lieber aus dem Garten entfernen sollte oder doch einer Pflanze, die man womöglich selbst irgendwann einmal ausgesäht hat. Darüber hinaus hilft es einem zu erkennen, wie viele verschiedene Arten von Insekten sich im Garten tummeln. Wenn man eine App hat, die einem den Namen des Insekts verrät, schaut man ganz anders auf die kleinen krabbelnden und fliegenden Tierchen und sieht plötzlich auch viel mehr als zuvor, als man noch alle Krabbeltiere auf einen Haufen geworfen hat.

Erde

Libelle auf Sonnenblume

7) Erde ohne Torf.

Durch den Abbau von Torf werden Moore großflächig und aud Dauer zerstört. Um an Erde ohne Torf zu kommen muss man teilweise ganz schön suchen, denn sie steckt in fast jeder Garten- und Topferde drin. Aber es gibt Alternativen (Suchmaschine hilft weiter) und diese sollten unbedingt und konsequent gewählt werden. Hier weiterlesen: https://praxistipps.focus.de/torffreie-erde-darum-ist-torf-so-problematisch_121383

In den Mooren leben viele Insekten und andere Lebewesen, deren Lebensgebiete durch den Torfabbau vernichtet werden. Wenn man also den Insekten etwas Gutes tun will, lässt man die Finger von torfhaltiger Erde. Zudem wird durch die Trockenlegung der Moore große Mengen CO2, das in den Mooren gespeichert ist, freigesetzt. Auch das wollen wir nicht.

Regenwurm

8) Kein Umgraben.

Die Erde lebt! In ihr befinden sich verschiedenste Bakterien, Einzeler, Algen, Strahlenpilze, Milben, Insekten und Würmer. Sie leben in ihren jeweiligen bevorzugten oder notwendigen Bodentiefen. Ein Umgraben zerstört ihre Lebensräume, wodurch sie oft sterben. Der Boden erholt sich zwar wieder, aber diese „Störung“ ist völlig unnötig und zudem schädlich. Ein gesunder, lebendiger Boden braucht im Normalfall kein Umgraben. Die Pflanzen und Tiere in ihm sorgen für ein perfektes Gleichgewicht, dass man nicht durcheinander bringen sollte (https://www.mein-schoener-garten.de/gartenpraxis/nutzgaerten/umgraben-sinnvoll-oder-schaedlich-fuer-den-boden-6046)

Schmetterling auf alter Sonnenblume

9) Düngen:

Im Herbst sollte man das Laub nicht einfach wegschaffen, sondern seine Pflanzen damit zudecken. Zum einen um sie vor Frost zu schützen. Zum anderen dient das Laub als Dünger, denn die Blätter zersetzen sich im Laufe des Winters und versorgen so die Pflanzen mit Nährstoffen. (Man kann die Pflanzen auch mit Kakaoschalen mulchen, wenn man nicht genug Laub zusammen bekommt). Auch abgeschnittene Pflanzenteile kann man einfach im Garten belassen. Ich habe (noch) keinen Komposthaufen, deswegen mache ich sie klein und werfe sie hinten ins Beet. Das Ziel ist es, alle Nährstoffe im Garten in einem Kreislauf zu halten, denn dann braucht man sie auch nicht ständig von außen neu zuzuführen.

Braunelle mit Hummel

10) Grün!

Alle Steinen und Fliesen, die nicht aktiv und wirklich gebraucht werden, sollte man entfernen und statt ihrer Erde und Pflanzen setzen. Das ist im Prinzip überall dort, wo man nicht läuft oder sitzt (und selbst da gibt es Alternativen zu Steinen). Selbst flache Schuppendächer können mit Sedum begrünt und so der Natur zurückgegeben werden. Das wirkt nicht nur der Aufhitzung im Sommer entgegen, sondern bietet Nahrung und zusätzlichen Raum, den sich die Insekten zurückerobern können.

Intermezzo: Guerilla Gardening

Kornblume

Irgendwann wird jedoch jeder Garten zu klein und man beginnt auf die grauen und brachliegenden Ecken zu schielen, auf denen tolle Pflanzen wachsen könnten. Samenkugeln können gekauft oder selbst gebastelt und hier und dort fallen gelassen werden. Genauere Anleitungen und den do´s und don´ts gibt es im Internet oder in Büchern zum Thema. Auch kann man Baumspiegel adoptieren und diese insektenfreundlich bepflanzen. Insektenliebe braucht nicht auf die Grenzen des eigenen Gartens beschränkt zu bleiben. 😉

Passionsblume, ein Insektenmagnet

BONUS

Die anderen Tiere

Natürlich sind auch andere Tiere gern gesehene Gäste im Garten. Zwar sehe ich Vögel im Sommer lieber außerhalb meines Gartens 😉 im Winter freue ich mich hingegen sehr über ihren Besuch. Auch Frösche, Igel und Co sind sehr willkommen und auch hier gibt es ein paar Ideen, um den Garten tierfreundlicher zu gestalten:

11) Vögel

Eine Allium

11.1 Vogelhäuser

Vogelhäuser sollten windgeschützt und nicht in voller Sonne aufgehängt werden. Außerdem sollten sie nicht zu nah an eventuellen Futterhäuschen oder Vogeltränken hängen. Etwa sechs bis sieben Meter sollte der minimale Abstand zueinander betragen. Es gibt verschiedene Bauarten und Größen fürs Eingangsloch – denn jede Vogelsorte hat ihre Präferenzen. Für ein Rotkehlchen muss das Loch groß sein, für eine Blaumeise jedoch klein. Je nachdem, welche Art du in deinem Garten haben möchtest, musst du genau schauen, welches Haus du aufhängst. Ganz wichtig ist, dass das Häuschen und mögliche Bewohner während der Brutzeit in Ruhe gelassen werden. Außerhalb der Brutzeit bietet sich eventuell eine Reinigung an.

11.2 Vogeltränke

Im Sommer sowieso, aber auch im Winter kann frisches Wasser Mangelware sein. Dann ist eine Vogeltränke mit frischem (und nicht gefrorenem) Wasser ideal.

Es gibt sie auch fürs Fenster

11.3) Vogelfutterstationen

Anscheinend sollen die Vögel jahrrund gefüttert werden. Wichtig ist, dass das Futter nicht in Netzen angeboten wird, auch wenn man es überall so kaufen kann, denn die Füße der kleinen Vögel können sich in ihnen verfangen und verletzt werden. Es gibt verschiedenste Halter für Fettkugeln oder Gläser, oder auch Futterhäuser und Schalen, die ohne Netz auskommen.

Einen Igel hatten bisher nur meine Nachbarn zu Besuch. Bitteschön, eine Kröte 🙂

12) Igel

12.1) Weg frei für die Igel

Igel legen können in der Nacht – wer hätte es gedacht – einige Kilometer zurücklegen. Holzzäune und andere Absperrungen machen es dem Igel jedoch immer schwieriger sich frei zu bewegen. Dabei ist es sehr einfach dem Igel Bewegunsgfreiraum zurückzugeben. Falls dein Garten von einem (Holz-)Zaun umgeben ist, säge Löcher zu allen Seiten rein. Das Loch sollte 13x13cm breit und hoch sein. Wer weiß, vielleicht finden auch deine Nachbarn die Idee gut und es kann eine Igel-Autobahn durch die Nachbarschaft entstehen.

12.2) Rummelecke

Räume das Laub im Herbst nicht weg, sondern mache eine Rummelecke im Garten, in der ein Igel sein Nest bauen und überwintern kann. Diese Ecke sollte nicht durch Kinder oder andere Tiere (zB Hunde) erreichbar sein. Totes Holz wird von Käfern geliebt und darf auch gerne in der Rummelecke bleiben.

Viel Glück und viel Spaß mit deinem eigenen lebendigen Garten!

Last, but not least: Ein paar weitere Eindrücke aus einem insektenfreundlichen Garten

Fliege
Seht euch die Beinchen an!
Libelle
Spinne mit Beute
Schwammspinner Raupe
Bläuling auf Buchweizen

To be continued …

Unfähig

Was ist die effektivste Methode um einem (unfairen) Kritiker das Wind aus den Segeln zu nehmen? Ihm zu widersprechen? Sich zu verteidigen? Mit ihm darüber zu argumentieren, warum er falsch liegt? Nein. Ganz im Gegenteil: Die effektivste Manier um ihn zum Schweigen zu bringen ist ihm zuzustimmen.

Der schärfste und beständigste Kritiker steht nicht vor einem, er thront stattdessen zwischen unseren Ohren und es entgeht ihm nichts. Manchmal kann man ihn ignorieren, sich taub stellen, sich sagen, dass man bloß nicht auf ihn hören soll, aber man kann die Kritik nicht vollends abwehren. Sie nagt an einem, und ob man will oder nicht, sie beeinflusst einen auch. Vielleicht sagt oder tut man etwas nicht, weil man diese innere Kritik fürchtet. Oder man verurteilt sich für etwas, das man in der Vergangenheit gesagt oder getan hat, weil der Kritiker einen immer mal wieder daran erinnert und einem sagt, dass man stattdessen dieses oder jenes hätte sagen oder tun sollen. All das kostet Energie und laugt einen auf Dauer aus.

Das erste Mal

Es gibt da dieses Vorurteil, dass Frauen nicht parken können. Jedes Mal wenn ich parken wollte, hatte ich es im Kopf, und auch, dass wenn ein Mann schlecht parkt, er einfach ein Mann ist, der schlecht parkt. Aber eine Frau die gesamte weibliche Hälfte der Weltbevölkerung repräsentiert und wenn sie schlecht parkt, alle Frauen schlecht parken. Ich wollte diesem Vorurteil nicht noch Zündstoff geben und versuchte möglichst gut zu parken. Und war oft unzufrieden. Nicht schnell genug geparkt, nicht elegant genug, etc pp. Dann kam mir der Gedanke: Wenn es heißt, Frauen parken schlecht, wieso dagegen ankämpfen? Kann ich das nicht für mich nutzen? Ich kann so mies parken wie ich will, schließlich bin ich eine Frau, ich darf das. Und ich mache damit auch noch einige Menschen sehr glücklich, nämlich jene, die eh glauben, Frauen könnten das nicht. Ich habe also keinen Stress, und jene sehen ihr Vorurteil bestätigt. Win-win.

Inzwischen bin ich tatsächlich viel entspannter was das Thema Parken betrifft. Wenn nur wenige Plätze zur Verfügung stehen, achte ich schon drauf, dass ich andere nicht behindere. Aber wenn es ein großer Parkplatz mit vielen freien Flächen ist, dann verschwende ich keine Zeit auf die perfekten Abstände rechts und links. Und ich nehme mir extra Raum heraus: Die meisten Parkplätze sind super, wenn man alleine unterwegs ist, berücksichtigen jedoch nicht, dass man vielleicht Kinder dabei hat, die ein und aussteigen und auch noch angeschnallt werden wollen. Es ist schon vorgekommen, dass ich so wenig Platz hatte, dass ich mich auf dem Fahrersitz kniend nach hinten verbiegen musste, um die Kinder anzuschnallen. Um das zu verhindern parke ich jetzt oft so, dass wenigstens eine Seite gut zu erreichen ist und ich beide Kinder ohne Verbiegen erreichen kann. Wenn die Parkplätze sich nicht an Müttern orientieren, müssen Mütter eben ihre Räume selbst erobern.

Ist der Ruf erst ruiniert…

…lebt es sich recht ungeniert. Und damit meine ich nicht den Ruf, den man bei anderen hat, sondern den Ruf, bzw. das Bild, das man gerne von sich selbst hat. Nachdem ich die neue Gelassenheit beim Einparken genossen habe, habe ich irgendwann festgestellt, dass sich diese Gelassenheit auch in anderen Bereichen erzielen lässt, und zwar, indem man einfach akzeptiert, dass man unfähig ist. Ich fing an zu sagen „I suck“ und musste direkt lächeln. Zum einen, weil ich natürlich weiß, dass es nicht stimmt und es sehr übertrieben klang, aber auch, weil ich fand, dass es mich befreite. Das Englische „suck“ hatte auch keine so sehr negative Bedeutung für mich, vielleicht auch, weil Englisch nicht meine Muttersprache ist, und das „suck“ mehr ein Klang, als wirklich eine Verurteilung war. Jedes mal wenn mir etwas nicht gelang, sagte ich mir „War doch klar, I suck wenn es zum Beispiel um Ordnung/Gärtnern/Freundlichsein geht. Was hast du denn erwartet!“. Ich zuckte mit den Schultern und machte weiter.

Nicken und Lächeln

Ich erkannte, dass es fast gar keine Energie kostet und den inneren Kritiker schnell zum Verstummen bringt, wenn man ihm schulterzuckend zustimmt. Das Wort suck habe ich durch ein deutsches, neutrales Wort ersetzt: unfähig. Hier ein paar Beispiele:

“Du wolltest deinen Laptop schön ordentlich halten und schau ihn dir jetzt wieder an: Völliges Durcheinander! Du kriegst es einfach nicht gebacken, Ordnung zu halten! Du bist doch kein Kind mehr, das müsstest du inzwischen gelernt haben” – “Du hast Recht. Ich bin unfähig auf Dauer Ordnung zu halten. Anscheinend fehlt mir noch die richtige Routine.”

“Deine Kinder sitzen schon wieder vor dem Fernseher und essen noch dazu ungesundes Zeug. Eine perfekte Mutter wüsste, wie sie ihre Kinder unterhalten kann, während sie andere wichtige Dinge erledigt, statt dass sie vor dem Fernseher geparkt würden. Du musst dir mehr Mühe geben” -”Du hast Recht. Eine perfekte Mutter wüsste das. Ich bin wohl unfähig diesem Ideal zu entsprechen.”

“Wie lange ist es her, dass du wirklich sportlich warst? Du musst endlich den Hintern hockkriegen und Sport in deinen Alltag einbauen. Sei nicht so faul.” -”Du hast Recht. Ich bin unfähig all die Aufgaben, die ich täglich habe, so zu sortieren, dass ich auch noch Zeit und Energie für Sport habe.”

“Stattdessen isst du schon wieder dieses ungesunde Zeug. Dabei schmeckt es nicht einmal toll. Du redest immer davon deine Gewohnheiten zu verändern, machst es aber dann doch nicht. Du bist so inkonsequent” -”Du hast Recht, ich scheine momentan unfähig meine Gewohnheiten zu verändern. Meine Prioritäten liegen wohl gerade woanders.”

“Damals, als du ständig mit Leuten über Veganismus diskutiert hast, hättest du dich nicht so aufregen und ruhig und sachlich bleiben sollen. Du hast dich von ihnen total aufreiben lassen und hast dich lächerlich gemacht” –“Du hast Recht, sich aufzuregen, weil jemand eine andere Meinung vertritt, bringt nichts. Ich war unfähig in der Situation ruhig zu bleiben, weil mich das Thema sehr berührt. Inzwischen weiß ich mehr darüber, warum Menschen trotz guter Argumente bei ihrer Meinung bleiben und erkenne auch, dass viele ihrer Argumente nur dazu gedacht waren, um mich abzulenken. Dieses Wissen hatte ich damals nicht. Heute kann ich mit solchen Diskussionen anders umgehen, aber das musste ich erst einmal lernen.”

Unfähigkeit ist wertfrei und nicht endgültig

Ich habe das Wort unfähig ganz bewusst gewählt, denn es hat für mich eine völlig neutrale, nicht bewertende Bedeutung. Ich benutzte nicht Wörter wie scheitern oder versagen, die eine verurteilende Bedeutung haben. Stattdessen sehe ich mich selbst als Beobachter, der eine Situation von außen betrachtet und wertfrei erfasst, was ist.

Zudem hat Unfähigkeit nichts Endgültiges, wie zum Beispiel Scheitern oder Versagen, die eher ein Ende ankündigen, ein Nicht-Erreichen eines Ziels. Die Unfähigkeit kann aber ein momentaner Zustand sein, und sich möglicherweise zur Fähigkeit entwickeln, was ihr sogar noch einen gewissen Optimismus verleiht.

Die eigene Unfähigkeit umarmen

Wir streben immer danach ein bestimmtes Ideal zu erreichen, und der innere Kritiker beurteilt ob unser Handeln ein Ideal erreicht, oder eben nicht. Ideale werden entweder von außen an uns herangetragen, oder wir setzen sie uns selbst. Diese Ideale sind jedoch teilweise komplett unrealistisch und egal wie sehr wir uns anstrengen, es ist unmöglich sie zu erreichen. Und wenn wir sie doch erreichen, können wir das Niveau nicht lange halten. Und dann schreit der innere Kritiker, dass wir versagen. Die meiste Zeit über liegen wir unter dem Wert von “Perfekt” und wenn wir glauben, nur dann zufrieden sein zu dürfen, wenn wir dieses Ideal erreicht haben, dann ist nicht sehr viel Lebenszeit mit diesem angenehmen Gefühl erfüllt. (Was sehr schade ist, wenn man bedenkt, dass wir wahrscheinlich nur dieses eine Leben haben.)

Wenn wir immer nur sehen, was wir nicht können (perfekt sein), verpassen wir es anzuerkennen, was wir wohl hinkriegen.

Wir können uns jedoch stattdessen eine Basislinie der Unfähigkeit dazu denken. Wir sind in vielen Dingen und oftmals oder immer mal wieder schlicht unfähig. Aber es gibt auch Dinge, die wir relativ gut machen, und oft genug sind wir imstande, also fähig, über die Basislinie hinaus etwas gut hinzukriegen. Alles was über der Basislinie liegt ist ja schon mal etwas. Ein Bonus, über den man sich freuen darf. Statt also sein Handeln anhand der eh nicht zu erreichenden, bzw. nicht aufrechtzuerhaltenden Perfektionismus-Linie zu bewerten und sich dafür zu schelten, sie nie zu erreichen, kann man sich freuen, dass man ziemlich oft über der Basislinie liegt. Die eigene Unfähigkeit zu umarmen heißt den Bereich und damit die Lebenszeit zu vergrößern, in der man einfach mit sich (und anderen) zufrieden sein kann, statt sich ständig aufzureiben.

Die Basislinie der Unfähigkeit verdeutlicht, dass wir ziemlich viel ziemlich gut hinbekommen. Wenn wir die Unfähigkeit als Basislinie akzeptieren, können wir die Energie, die wir sonst an der kritischen Stimme verschwenden würden dazu benutzen zielführende Wege zu erschließen, die uns helfen uns weiterzuentwickeln.

Unfähigkeit für sich nutzen:

Eines meiner Ideale war, alles alleine zu schaffen. Aber ich habe erkannt, dass ich viel mehr erreichen kann und mich viel besser weiterentwickeln kann, wenn ich andere um Hilfe bitte. Zum Beispiel bin ich unfähig einen perfekten Artikel zu schreiben. Ich kann einen relativ guten Artikel hinbekommen, das ist ja schon einmal was. Aber wenn ich mich traue diesen Artikel einer Person zu schicken, die mir gutes Feedback gibt, kann der Artikel um ein Vielfaches besser werden und ich mich selbst auch noch weiterentwickeln, weil ich das Gelernte für die nächsten Artikel benutzen kann. Auch mein letztes Bewerbungsschreiben war zunächst in Ordnung, wurde aber wirklich gut, nachdem ich Freunde gefragt habe, einen Blick drauf zu werfen und mir konstruktive Kritik zu geben. Mein Ideal, wirklich gute Artikel ganz alleine hinzubekommen, hat mich davon abgehalten, das Feedback zu bekommen, was ich nötig hatte, um mich weiterzuentwickeln. Es stand meinem Ziel gute Artikel zu schreiben im Weg. Anzuerkennen, dass ich unfähig war, es alleine zu schaffen, eröffnete mir die Möglichkeit, um Hilfe zu bitten und Fortschritte zu machen.

Ich habe auch erkannt, dass ich die Aufgaben das Haus sauber und ordentlich zu halten, die Kinder zu versorgen und zu bespaßen, mich auf die Arbeitssuche zu konzentrieren, eigene Interessen zu verfolgen und noch viele, viele andere Aufgaben, nicht alle unter einen Hut bekomme. Statt also weiterhin zu versuchen „nur die richtige Tagesplanung zu finden, die alles ermöglicht“, werde ich meine Mutter fragen, mir unter die Arme zu greifen.

Ich hatte letztens schlechte Laune und bin mit den Kindern nach draußen gegangen. Mir kam eine Person entgegen, mit der ich noch etwas klären musste, aber aufgrund meiner schlechten Laune keine Lust hatte, zu sprechen. Die Person sagte freundlich Hallo, ich ebenso, und dann sagte ich wir müssten weiter. Sie schien überrascht und eigentlich im Begriff stehen zu bleiben um ein Pläuschchen zu halten, aber ich ging weiter. Sollte ich mich deswegen blöd fühlen? Weil ich ja eigentlich eine freundliche Person bin. Quatsch. Ich war unfähig in der Situation besonders zuvorkommend zu sein, und ich war unfähig so zu tun als sei alles in Ordnung. Vielleicht bin ich beim nächsten Mal wohl dazu fähig, wenn ich besser drauf und kommunikativer gestimmt bin.

Andere Menschen haben andere Ideale, die sie womöglich wieder und wieder verfehlen. Sich zu sagen „Anscheinend bin ich unfähig diesem Ideal zu entsprechen. In Ordnung, dann arbeite ich halt mit dem, was ich wohl schaffen kann.“ kann immensen Druck herausnehmen und Platz schaffen, sich zu akzeptieren und neue Wege zu finden, seinen Zielen näher zu kommen.

Die Unfähigkeit der anderen

Wenn man selbst unfähig ist perfekt zu handeln, dann sind es andere natürlich auch. Auf viele Begebenheiten in der Vergangenheit, und vermeintliche Fehler anderer Menschen kann man mit einem viel milderen Blick schauen:

Eine Person reagiert wütend auf kleinste Kritik und zieht direkt eine Mauer hoch? – Sie ist unfähig mit ihren Gefühlen umzugehen und hat noch keine effektive Methode gefunden auf Kritik zu reagieren.

Jemand reagiert nicht so, wie man es gerne hätte? – Er ist momentan unfähig auf die Wünsche einzugehen. Es ist vielleicht nicht deutlich, wieso, aber irgendetwas hält ihn davon ab, er kann es jetzt einfach nicht.

Ein Bekannter macht einen verletzenden Kommentar? – Er ist unfähig zu erkennen, was er damit bewirkt. Und wenn doch, dann ist er unfähig zu angemessenem sozialen Verhalten.

Wenn Menschen besser handeln könnten, würden sie es tun. Niemand verhält sich absichtlich dumm. Wenn sie sich falsch verhalten, sind sie anscheinend momentan nicht in der Lage, sich angemessen zu verhalten. Das Gleiche gilt für uns selbst. Statt den anderen oder uns selbst zu verurteilen, kann man Nachsicht walten lassen und einfach hoffen, dass die andere Person, und wir selbst, aus unseren Erfahrungen lernen und in der Zukunft über unsere Unfähigkeiten hinauswachsen.

Gelassenheit

Ich hatte geglaubt, mich nicht so schnell beirren zu lassen, und mich nicht von Erwartungen anderer unter Druck setzen zu lassen, aber meine eigenen Erwartungen hatten mich fest im Griff und haben mich wieder und wieder förmlich umgehauen. Ich fühlte mich überfordert und manchmal sogar apathisch, weil ich nicht wusste, wo ich anfangen sollte, um den riesigen Berg meiner eigenen Erwartungen zu erfüllen um dem Bild zu entsprechen, dass ich gerne von mir hätte. Auch andere beurteilte ich mitunter sehr kritisch. Statt zu schauen, was sie wohl taten, achtete ich vor allem darauf, was sie nicht taten. Diesen Blick zu verändern hat großartige Folgen:

Wenn meine Kinder meiner Anweisung nicht folgen, sage ich mir, dass sie unfähig sind, diese zu verstehen oder sie aufgrund anderer Bedürfnisse unfähig sind, ihr zu entsprechen. Oder dass ich unfähig bin, mich klar auszudrücken. So oder so, ich rege mich weniger oft auf (Es wäre gelogen, wenn ich sagte, ich würde immer entspannt bleiben, aber es ist definitiv entspannter geworden.) Wenn ich jetzt daran denke, dass ich in der Zukunft, vielleicht bei einem Interview, patze, dann zucke ich die Schultern. Dann werde ich wohl unfähig sein, in dem Moment besser zu prästieren. Und alles was in der Vergangenheit getan oder gesagt habe, habe ich so gut gesagt oder getan, wie es mir in dem Moment möglich war. Wenn ich etwas nicht gut gemacht habe, dann war ich aus welchen Gründen auch immer, unfähig es besser zu machen. Vielleicht werde ich es in Zukunft besser machen, vielleicht aber auch nicht. Wenn meine Mitmenschen sich nicht perfekt verhalten, gilt für sie das Gleiche: In dem Moment waren sie unfähig es besser zu machen. Man könnte jetzt argumentieren, dass Mörder dann wohl auch nicht anders hätten handeln können. Vielleicht ist das auch so. Das befreit sie jedoch nicht von ihrer Schuld. Worum es mir in diesem Artikel jedoch geht, sind Alltagshandlungen, und wie wir mit uns selbst und anderen umgehen, und wie wir dafür sorgen können, dass unsere Energie nicht weggefressen wird von inneren Kritikern, und wir unsere begrenzte Lebenszeit auf angenehme bzw. hilfreiche Gefühle und Gedanken lenken, die uns weiterbringen, statt uns zu blockieren. Seit ich die Unfähigkeit umarme, und sie mir zunutze mache, indem ich sie, statt der Perfektion, als Anker benutze um mein Handeln zu betrachten, habe ich auf jeden Fall zu einer ganz neuen Gelassenheit gefunden.

Dieser Gedanke wird wohl nicht jeden ansprechen. Der ein oder andere wird auch denken „Ich habe solche Probleme nicht.“ Aber ich bin keine Schneeflocke, ich bin nicht einzigartig was die kritische Stimme in meinem Kopf angeht, und wenn mir dieser Gedanke hilft, dann hilft er vielleicht auch jemand anderem. Deswegen dieser Artikel. Vielleicht nicht perfekt, aber wenn er hilft, hat er seinen Zweck erfüllt.

Deine RE

Die Klitoris

…und ihre Bedeutung für die weibliche Sexualität

Wenn dein Sexualkunde-Unterricht in etwa so aussah, wie meiner, dann hast du auch Übungsblätter bekommen auf denen die männlichen und weiblichen Sexualorgane dargestellt waren, die man dann nacheinander richtig benennen sollte. Fandest du nicht auch, dass Frauen im Vergleich zum Mann, in Hinsicht auf Erregung und Lust, den Kürzeren zogen? Der Mann hatte die deutlich sichtbaren Geschlechtsorgane, Hoden und Penis, und der Penis schwoll bei Erregung auch noch an und wurde größer. Die Frau hatte… man fand ihn nach einigem Suchen, diesen kleinen Punkt, die Klitoris. Nicht sonderlich beeindruckend, oder? Frauen hatten zwar eine Gebärmutter um Babies auszutragen, aber beim Thema Erregung und Lust schienen die Männer irgendwie besser ausgestattet zu sein. Es schien nicht sehr wahrscheinlich, dass Lust und Wonne bei Mann und Frau ähnlich intensiv sein konnten, wenn dem Mann die ganze Länge seines Penis zur Verfügung stand, und der Frau einzig dieser kleine Punkt.

Die Spitze des Eisbergs

Viele, viele Jahre später dann „die Neuigkeit“! Das was wir als „die Klitoris“ kennengelernt haben, ist nur die Spitze des Eisbergs, nämlich die Klitoris-Eichel. Die Klitoris-Eichel ist allerdings nur der von außen sichtbare Teil der Klitoris. Hinzu kommen noch die Schenkel, die um die Vagina herum verlaufen, und zwei Schwellkörper, die unterhalb der Vulvalippen liegen. Die gesamte Klitoris ist nicht 1-2 cm, sondern stolze 9-11 cm lang!

Zum Vergleich hier noch einmal ein Bild, das wir so oder so ähnlich wohl alle gut kennen: Die Frau mit lediglich einem „Punkt“. Es ist schockierend! Und so wird es leider in den meisten Fällen immer noch gelehrt! Die ersten Verlage überarbeiten inzwischen ihre Bücher. Mal sehen wie lange es dauert, bis das Bild oben überall angekommen ist und das Bild unten der traurigen Vergangenheit angehört.

Warum es wichtig ist die Anatomie der Klitoris zu kennen

Erst im Laufe der Embryonalentwicklung differenzieren sich die Geschlechtsorgane von Mann und Frau. Das Ausgangsmaterial ist jedoch das gleiche, welches dann eine etwas andere Form annimmt. Es überrascht daher nicht, dass Anatomie, Funktionsweise, und eben auch Lustempfinden von Klitoris und Penis sehr ähnlich sind. Die Schwellkörper der Klitoris schwellen bei Erregung genauso an wie der Penis und werden größer. Sie lassen sich im erregten Zustand gegebenenfalls sogar von außen beobachten, wenn sie sich unter der Haut der Vulvalippen abzeichnen. Das bedeutet, dass die Frau ein genauso lustvolles Wesen ist bzw. sein kann, wie der Mann. Und statt eines winzigen Pünktchens steht der Frau ein ganzes, großes Organ zur Verfügung. Dem einzigen Organ im menschlichen Körper übrigens, dessen einziger Zweck es ist Vergnügen zu bereiten und Lust zu gewinnen.

Jetzt da die Anatomie der Klitoris bekannt ist, wird auch deutlich, dass es den „vaginalen“ Orgasmus gar nicht gibt. Wenn eine Frau durch Penetration allein einen Höhepunkt erlebt (und das klappt nur bei einer Minderheit), ist es dennoch die Klitoris, die diesen ermöglicht, da hierbei die Klitoris, genauer gesagt deren Schwellkörper, über die Innenseite der Vagina stimuliert wird/werden. Ein vaginaler Orgasmus ist also faktisch immer ein klitoraler Orgasmus. Dabei ist zu beachten, dass der untere Teil der Vagina, nahe der Öffnung, hierbei die wichtige Rolle spielt, und der Rest der Vagina weitaus weniger zur Erregung beiträgt.

Warum ist die weibliche Sexualität dann so „kompliziert“?

Leider gibt es viele Faktoren, die der Auslebung einer entspannten und lustvollen Sexualität im Weg stehen. Das sind zum einen Unkenntnis über die Anatomie, aber auch Scham, Tabus und Fehlinformationen rund um Sexualität. Es gibt nur wenige, die offen über Sexualität sprechen, aber dennoch sollen alle irgendwie ganz intuitiv wissen, wie „es“ geht.

Beispiel Penetration

Wie wir inzwischen wissen, ist ein vaginaler Orgasmus eigentlich ein klitoraler Orgasmus. Aber nicht alle Frauen können durch Penetration allein einen Orgasmus bekommen. Das hängt davon ab, wie die jeweilige Klitoris und Vagina zueinander liegen. Wenn Frauen nun probieren einen „vaginalen“ Orgasmus zu erlangen und es klappt nicht, könnten sie glauben, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Das ist aber nicht der Fall. Sie gehören sogar zur Mehrheit der Frauen, die eine andere Form der Stimulation brauchen, um den Höhepunkt zu erreichen.

Beispiel Masturbation

Frau und Mann lernen am besten, was ihnen selbst gefällt, wenn sie erst einmal für sich alleine ihren Körper erkunden. Während Masturbation leider noch oft bei beiden Geschlechtern ein Tabu ist, wird sie bei Männern schon eher akzeptiert. Viele Frauen erleben ihre ersten sexuellen Erfahrungen jedoch erst mit einem Partner/einer Partnerin. Masturbation ist bei Frauen immer noch oft etwas, das nicht selbstverständlich ist. Und dabei haben sie ein wundervolles Organ, das nur dazu dient, ihnen gute Gefühle zu verschaffen.

Beispiel Scham

Viele Frauen fühlen sich unsicher in Bezug auf ihren Körper. Das gilt zwar sicher auch für Männer, aber vor allem was die Vulva betrifft gibt es viele Verschämtheit. Weibliche Sexualität ist so mit Mythen und Falschinformationen behaftet, dass es kein Wunder ist, dass Frauen sich vieler Dinge schämen, die eigentlich normal und natürlich sind.

Die Werbung suggeriert, dass wir unsere Vagina waschen müssen, damit sie „frisch“ duftet. Das ist Blödsinn! Die Vagina reinigt sich selbst und Reinigungsversuche können leicht das sensible Gleichgewicht zerstören. Und dann fängt der „Spaß“ erst wirklich an, weil die Vagina dann für Krankheiten anfällig ist. Auch während der Menstruation sollen Frauen darauf achten, bloß nicht zu riechen. Dafür gibt es denn Binden mit Frischeduft. Wer achtet bei Nasenbluten auf Frischeduft? Niemand. Aber wenn es unten raus kommt, ist es ekelhaft, und Frau muss sich schämen.

Wir lernen, dass Frauen große und kleine Schamlippen haben. Schamlippen! Und Frauen, deren innere Vulvalippen größer sind als die äußeren fangen an zu glauben, dass bei ihnen etwas nicht stimmt. Gerade Pornos helfen da nicht, denn da wird anscheinend vor allem eine Standard-Vulva gezeigt, die den Abbildungen aus den Büchern gleichen. Zum Glück gibt es inzwischen die „great wall of vagina“, die Frauen und Männern zeigt, dass Vulven, wie Penisse, in vielen Formen und Größen existieren. (Übrigens auch Farben.)

Jamie McCartney Great Wall of Vagina (nur ein Ausschnitt)

Beispiel Fehlinformation

Es heißt die Anatomie der Klitoris sei erst 1998 vollständig entdeckt worden, andere Quellen legen jedoch nahe, dass die Klitoris schon früher in ihrer ganzen Größe entdeckt wurde. Warum dieses Wissen wieder in der Versenkung verschwand? Gute Frage! Aber die Tatsache, dass lediglich etwa 50% der Bevölkerung eine Klitoris besitzt, schien nicht ausreichend, um diese Erkenntnis der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Nicht-Beachtung war allerdings nicht das Schlimmste. Was alles über die Klitoris behauptet wurde, und was Frauen so alles eingeredet wurde, ist echt widerlich. Hier ein interessanter Artikel dazu https://www.entitymag.com/clitoris-history/.

Beispiel Objektifizierung

Obwohl der Körper der Frau ständig in sexuellen Kontexten gezeigt wird, ist Frau selbst selten handelndes, lustvolles Subjekt. Frauen sollen schön und attraktiv sein, aber wenn eine Frau öffentlich darüber spricht, gerne Sex zu haben und viel Sex zu wollen, bekommt sie schnell ein negatives Stigma aufgedrückt. In den Köpfen von Männern und Frauen wird eine lustvolle Frau schnell zur Schlampe. Dass sie aus sich selbst heraus Spaß an Sex hat ist zudem nicht vorstellbar, stattdessen „lechzt sie nur nach männlicher Anerkennung“.

Hinzu kommt dass wir vor allem sehen und hören, dass der Mann Sex hat, und dass der Frau Sex passiert. Im Porno wird die Frau vor allem dafür „benutzt“ dem Mann Lust zu bereiten. Wir hören zudem vor allem dann von sexuellen Handlungen, wenn von Grenzüberschreitungen und Missbrauch gesprochen wird, also dann, wenn es falsch läuft. Da wir nicht über die positiven Seiten von Sex sprechen und wir in Sexszenen im Film immer nur den „für beide Seiten erfüllenen Penetrationsakt“ sehen, entsteht ein ziemlich verzerrtes Bild darüber, was Sexualität ist beziehungsweise sein kann.

Beispiel Zwischen den Ohren

Weibliche und männliche Erregung und Lust kann unterschiedlich sein. Während viele Männer gut auf visuelle Reize reagieren, werden viele Frauen anscheinend sehr gut durch sexuelle Phantasien erregt. Ein großer Teil der weiblichen Sexualität spielt sich in ihren Köpfen ab. Das bedeutet, dass Stimulation der Klitoris alleine eben auch nicht immer zum erfüllenden Sex führt. Viel von dem Sex, den wir sehen, den wir kennen, berücksichtigt das aber überhaupt nicht. Wenn Frau das aber weiß, und ihr Partner/ihre Partnerin darauf eingeht, kann der Sex für alle Beteiligten wirklich erfüllend sein. Dass es lange dauert, bis eine Frau einen Orgasmus erreicht ist übrigens nicht richtig. Viele Frauen berichten bei der Masturbation keine Probleme zu haben schnell Orgasmen zu erreichen. Deswegen sollte Frau nicht versuchen müssen, schneller zum Orgasmus zu kommen. Stattdessen sollte bei sexuellen Begegnungen viel mehr auf die unterschiedlichen Bedürfnisse eingegangen werden, statt einem vorgefassten Muster zu folgen und einem Bild von Sex nachzustreben.

Beispiel Unerwünschte Schwangerschaft

Zu all dem oben genannten kommt auch noch die Angst vor einer ungewünschten Schwangerschaft hinzu, die Frau leider immer noch viel zu oft alleine trägt. Nimmt Frau die Pille, können diese Hormone ihre Libido ordentlich mindern. Und wenn sie die Pille nicht nimmt, bleibt bei Kondom und Co (aber natürlich auch bei der Pille) immer ein Restrisiko auf eine ungewünschte Schwangerschaft. Wenn im Fall der Fälle eine Abtreibung nicht in Frage kommt, bedeuten die Schwangerschaft und Mutterschaft in vielen Fällen eine enorme Belastung und das Ende so mancher Träume. Kommt eine Abtreibung wohl in Frage ist sie dennoch oft eine enorme körperliche und psychische Belastung, weil auch hier wieder Scham, Schuld und Tabu spielen, die Frau zumeist alleine aushalten muss.

Was können wir tun?

Bei all diesen Einflüssen ist es wenig verwunderlich, wenn Frau irgendwann das Interesse an Sex verliert oder seltener als der Mann sexuelle Lust verspürt. Zum einen ist oft weder ihr noch ihrem Partner/ihrer Partnerin wirklich deutlich, was ihr tatsächlich Lust bereitet, zum anderen ist Sexualität oft mit Negativbeispielen und negativen Konsequenzen für die Frau assoziiert. Es gibt aber Wege, dass alle Geschlechter zu einer erfüllten Sexualität gelangen können, aber das fragt ein bisschen Einsatz und eventuell Überwindung:

  1. Über Sex sprechen. Mit dem Partner, aber auch mit Freunden und Freundinnen. Sex darf kein Tabu mehr sein. Wenn wir endlich damit beginnen uns über dieses Thema auszutauschen, ohne Scham und Verlegenheit, dann können wir so viel voneinander lernen. Zudem können wir auch viel eher verstehen, dass das, für das wir uns vielleicht schämen, wahrscheinlich etwas völlig Normales ist.
  2. Masturbation. Ob ohne oder mit Beziehung, jeder sollte seinen Körper ganz alleine erkunden und lieben lernen. Es ist nicht leicht sich von all den Dingen zu lösen, die einem über Jahre eingeflüstert wurden, aber es wäre doch schade, wenn man ein Organ völlig vernachlässigt, dass nur für das eigene Vergnügen zuständig ist.
  3. Informieren. Es gibt bereits gute Bücher über die Sexualität von Mann und Frau, die mit vielen Mythen aufräumen und Mut machen, sich selbst und einander Lust zu bereiten, und Tipps und Tricks verraten, wie es klappen kann.
  4. Nächste Generationen: Ich hoffe, dass die Mädchen heute nicht mehr lernen, dass ihr Hymen „reißt“, wenn sie das erste Mal Penetrations-Sex haben (das stimmt nicht!), oder dass sie ihre Jungfräulichkeit „verlieren“, als sei sie etwas, das über ihren Wert bestimmt. Ich hoffe, dass heutige und zukünftige Generationen von Mädchen und Jungen wirklich offen und ohne Scham über ihre Körper und ihre Lust sprechen können. Um das zu erreichen, sollten wir anfangen, Sex nicht mehr als etwas zu behandeln, über das – wenn überhaupt – nur hinter verschlossenen Türen gesprochen werden darf, sondern etwas ist, das wunderschön und erfüllend sein kann, für alle Beteilligten. Und dass man nicht falsch ist, wenn etwas noch nicht klappt, sondern einfach noch in Erfahrung bringen muss, was sich für einen selbst gut anfühlt. Wenn wir jetzt anfangen, wird es für folgende Generationen leichter sein Sex als das zu sehen, was es sein sollte: die schönste Nebensache der Welt!

Und weil sie so schön ist, noch einmal:

Sophia Wallace Cliteracy

Falls ihr irgendwo eine Penis-Zeichnung seht, könnt ihr jetzt eine wunderschöne Klitoris daneben malen. Auf einem T-Shirt macht sie sich sicher auch toll…und ein guter Eisbrecher wäre das außerdem auch… 😀

Mit lieben Grüßen,

RE

Mehr zum Thema:

https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/sexuelle-aufklaerung-schulbuecher-zeigen-jetzt-die-ganze-klitoris

https://www.huffpost.com/entry/cliteracy_n_3823983

https://de.wikipedia.org/wiki/Klitoris

https://www.anatomyofpleasure.org/over-the-skin-what-you-can-see

Ach gebt einfach Klitoris/clitoris in eine Suchmaschine ein (Empfehlung für die Suchmaschine: duckduckgo, nicht google). Happy further reading 🙂

Beitragsbild: 3D Model von Odile Fillod

Der Frühling macht, der Sommer lacht, der Herbst, der flucht, im Winter Blut

Es gibt da diese Idee den weiblichen Zyklus in vier Phasen aufzuteilen, die sich sehr elegant durch die “vier inneren Jahreszeiten” veranschaulichen lassen.

Wenn man sich die hormonellen Schwankungen einmal auf einer Grafik ansieht, zb. auf Wikipedia (Stichwort: Menstruationszyklus), und man liest, dass das Östradiol(ein Östrogen)-Level um 200% und Progesteron sogar um 1200% innerhalb eines Zyklus variiert (Englisch: menstrual cycle, auf der deutschen Seite gibt es diese Grafik nicht), dann ist es wirklich kein Wunder, dass man sich im Verlauf des Zyklus sehr unterschiedlich fühlen kann. Bevor ich auf die “inneren Jahreszeiten” gestoßen bin, war mir zwar bereits aufgefallen, dass ich mich manchmal als besonders schön empfinde, und bevor ich meine Tage bekomme mitunter sehr reizbar bin, aber dass es auch einen “Frühling” gibt, eine Phase, in der man vor Energie nur so strotzt, war mir nicht aufgefallen. Ich habe mir also einmal die Mühe gemacht und habe mir einen Menstruationskalender kreiert (Den gibt es auch als app, aber ich wollte meine Daten nicht mit irgendwem teilen, daher ganz schlicht auf Papier). Ich habe nicht nur meine Menstruation eingetragen, sondern auch weitere Symbole: einen Muskelarm, wenn ich mich besonders energiegeladen fühlte, ein Herz, wenn ich mich sexy fühlte, ein lächelndes Gesicht, wenn ich die Menschen mochte, und einen Blitz, wenn ich sehr reizbar war. Und tatsächlich, die Symbole wiederholten sich verstärkt in denselben Phasen des Zyklus. Die Charakteristika dieser Phasen scheinen zudem – zumindest zum großen Teil – mit denen anderer Frauen übereinzustimmen. Der weibliche Zyklus ist viel mehr als nur die monatliche Blutung. Innerhalb eines Monats, jeden Monats, erleben wir, bildlich gesprochen, die Höhen und Tiefen eines ganzen Jahres! 😉

Die vier inneren Jahreszeiten

Der innere Winter: Ruhe und Regeneration

Zeitraum: Die Tage der Menstruation

Gekenmerkt durch: Unwohlsein, Schmerz, aber auch mentale Ausgeglichenheit

Zeit für: Entspannung, Selbstsorge, es ruhig angehen lassen.

Vorsicht: Nicht glauben, man sei faul, nur weil man sich die Ruhe nimmt, die man gerade braucht.

Der innere Frühling: Neubeginn

Zeitraum: Die ersten Tage nach der Menstruation

Gekenmerkt durch: Ich kann alles!-Mentatlität, Unmengen an Energie und Optimismus

Zeit für: Dinge angehen, die mehr Energie benötigen; Neues ausprobieren.

Vorsicht: Man kann sich eventuell überladen.

Der innere Sommer: Höhepunkt

Zeitraum: Die Tage um den Eisprung herum, Mitte des Zyklus

Gekenmerkt durch: Lasst uns alle Freunde sein!-Mentalität, und “Boah, sehe ich gut aus!”

Zeit für: Geselligkeit, Unternehmungen, Sex

Vorsicht: Vielleicht verleitet einen die Geber-Laune zu mehr Großzügigkeit als gut wäre.

Der innere Herbst: Einigeln

Zeitraum: Nach dem Eisprung bis zum Einsetzen der Menstruation

Gekenmerkt durch: Die ganze Welt ist blöd!-Mentalität, “Lasst mich alle in Ruhe”, erhöhter Appetit

Zeit für: Schokolade und Ablenkung, am besten allein.

Vorsicht: Andere Menschen sind wahrscheinlich gar nicht so blöd, nicht zu schnell urteilen.

Go with the flow: Die Jahreszeiten für sich nutzen

Natürlich haben nicht nur Hormone einen Einfluss darauf, wie wir uns fühlen, und wie viel Energie uns zur Verfügung steht. Qualität und Quantität des Schlafs (Eltern wissen, wovon ich spreche), Ernährung, Sport, Krankheiten, Geschehnisse, usw. spielen auch eine Rolle. Und man kann auch im Frühling schlechte Laune haben, sich im Herbst pudelwohl fühlen, oder sich im Winter als besonders schön empfinden. Aber die Wahrscheinlichkeit für das eine oder das andere kann je nach innerer Jahreszeit höher oder niedriger sein. Dann ist das Wissen darum, dass sich nicht nur die Menstruation jeden Monat wiederholt, sondern auch andere Phasen, die durch das auf und ab der Hormone beeinflusst werden, nicht einfach nur interessant, sondern kann vor allem auch nützlich sein. Denn dann kann ich mit meinen Stimmungen, Bedürfnissen und Stärken arbeiten, statt gegen sie anzukämpfen. Zum Beispiel:

1. Wenn es Dinge gibt, die ich gerne vor mir her schiebe, dann versuche ich diese in der ersten Woche nach meiner Menstruation zu erledigen, denn im Frühling fällt es mir besonders leicht Entscheidungen zu fällen und Dinge anzupacken. In der Zeit kann ich sowieso alles 😀

2. Soziale Kontakte pflege ich besonders gut im Sommer, denn dann fällt es mir leicht auf andere Menschen einzugehen, ich fühle mich in sozialen Kontexten richtig wohl und genieße es mit anderen Menschen zusammen zu sein, viel mehr als sonst. Es kostet mich kaum Energie und gibt mir stattdessen viel Energie zurück. Im Sommer mutiere ich zur Extrovertierten 😀

3. Wenn ich merke, dass ich schnell gereizt reagiere und ich alles etwas negativer sehe als sonst (milde ausgedrückt), dann gehe ich sozialen Interaktionen so gut es geht aus dem Weg. Sie kosten mich in dieser Phase viel Energie und ich kann die Zeit besser nutzen, indem ich Dinge tue, die mir Energie zurückgeben. Zum Beispiel Schreiben. Und ich lenke mich ab, wenn ich merke, dass negative Gedankenspiralen oder Erinnerungen mich herunter ziehen, statt ihnen nachzuhängen. Ich weiß, diese Phase geht vorüber, und ich muss nur schauen, dass ich sie so angenehm wie möglich gestalte. Inklusive Schlemmen natürlich.

4. Vor allem an den ersten Tagen meiner Menstruation fühle ich mich meistens unwohl und energielos. Das akzeptiere ich dann und versuche nicht krampfhaft das Energie-Niveau der anderen Wochen zu halten. Ich lasse es ruhiger angehen und verschiebe Dinge, die nicht essentiell sind, auf den Frühling. Stattdessen mache ich es mir gemütlich und lege die Beine hoch (soweit es sich eben machen lässt).

Auf das Timing kommt es an

Ich war vor Kurzem mit meinem Mann in einem Kletterwald klettern. Hatte ich das die Male davor sehr genossen, konnte ich es bei jenem Mal absolut nicht. Meine Gedanken hörten sich in etwa so an “Wie sicher ist die Ausrüstung? Was, wenn ich etwas falsch mache und in die Tiefe stürze? Was soll daran so toll sein, so hoch oben herum zu klettern? Warum tun wir uns das an? Gefällt es den anderen wirklich, oder geben wir alle zusammen nur vor, dass es uns Spaß macht?” Ich fragte mich, warum ich jetzt so negativ eingestellt war, wo es mir doch früher so viel Spaß gemacht hatte. Mir fiel ein, dass ich kurz vor meiner Menstruation stand und dann wusste ich, dass heute einfach der falsche Tag für Abenteuer und andere Menschen war. Was ich wollte war allein sein, mit einem guten Buch und was Leckerem zu essen. Ich wollte nicht an einer Seilbahn hängen. Ich ließ es dann sein und machte mir eine gedankliche Notiz, dass ich diese “Abenteuer” auf meinen inneren Frühling oder Sommer legen sollte, wenn möglich, um für mich den meisten Spaß aus der Sache zu ziehen. Und ich wusste, dass ich keine generellen Schlussfolgerungen ziehen musste ala “Klettern ist nichts für mich”, sondern es einfach auf meine Phase im Zyklus schieben durfte, in der ich eben andere Dinge brauchte.

Nicht jede Frau wird diese Phasen bei sich feststellen. Solche, die die Pille nehmen, haben diese Hormonschwankungen nicht, und werden “nur” durch die anderen Alltags-Faktoren beeinflusst. Und andere merken die Schwankungen generell nicht so doll. Aber für jene, die sie wohl wahrnehmen, kann es sicher interessant und eben auch nützlich sein zu wissen, dass es die Schwankungen und somit Phasen gibt, in denen sich Bedürfnisse und Stärken ändern, denn so können sie diese entsprechend berücksichtigen und nutzen. Wir sind unseren Hormonen zum Glück nicht hilflos ausgeliefert, und frau kann trotz fehlendem Antrieb oder schlechter Laune Dinge erledigen und rational denken. Aber wir können uns unser Leben mitunter leichter machen, wenn wir Tätigkeiten, Termine, Treffen, Ruhepausen, usw. entsprechend unserem Zyklus planen und nicht glauben, wir müssten an jedem Tag des Monats gleich energiegeladen, freundlich, und sexy sein, und uns eben auch die Zeit für uns selbst gönnen um aufzuladen.

Schneeglöckchen oder Sonnenblume?

Ich freue mich auf eine Zeit, in der sich Frauen/menstruierende Personen begrüßen und sagen:

“Und? Welche Jahreszeit steht bei dir an?”

-“Herbst!”

“Okay! Wir verschieben das Ausgehen. Wollen wir uns auf die Couch kuscheln und Kuchen essen?”

-“Das ist genau das, was ich gerade brauche!”

Oder:

“Ich bin im Frühling!”

-“Toll, lass uns etwas Neues ausprobieren!”

„Au ja!“

Vielleicht hast du ja Lust bekommen herauszufinden, wie dein Frühling, Sommer, Herbst und Winter aussehen; hinzuhorchen, was du in diesen Phasen magst und brauchst; dich von anderen Dingen zu distanzieren; und einfach mit den Schwankungen arbeitest, statt gegen sie.

Deine Re,

die sich gerade im Herbst befindet, sich den ganzen Tag zusammen reißen musste, endlich alleine ist und nun tief durchatmet. Da freut man sich schon fast auf den Winter… 😉

Memento Mori

Ich werde sterben. Du wirst sterben. Wir alle werden sterben. Das ist uns allen klar, aber wir wissen nicht, wann es soweit sein wird. Die Ungewissheit über den Zeitpunkt unseres Todes hat wahrscheinlich ihr Gutes. Wahrscheinlich wäre die Gewissheit noch schwerer zu ertragen als die Ungewissheit, denn dann würde der Tod das Leben viel deutlicher überschatten. So können wir die Tatsache, dass wir irgendwann sterben werden noch ganz gut verdrängen. Aber unser Leben zu planen wird dadurch natürlich schwieriger. Wenn ich wüsste, dass ich morgen stürbe, oder nächste Woche, oder in einem Jahr, oder in 60 Jahren, würde ich wahrscheinlich – je nach Situation – andere Entscheidungen treffen. Aber ich weiß nicht, wann ich sterbe. Ich muss also für eine Zukunft planen, um zum Beispiel abgesichert zu sein, die ich vielleicht gar nicht erlebe. Und die Zeit, die ich jetzt auf scheinbar wichtige Dinge verwende, hätte ich anders nutzen können, wenn ich wissen würde, dass es jene Zukunft für mich gar nicht gibt. Wie kann man aber dann sein Leben so gestalten, dass man am Ende sagen kann: „Ich hatte ein gutes Leben.“?

Ich hatte vor ein paar Tagen die seltene Gelegenheit einen langen Spaziergang zu machen und zwar ganz alleine und ohne zeitliche Beschränkung. Und während ich im absoluten Schneckentempo einen Fuß vor den anderen setzte, mal hier und mal dort stehenblieb und ziellos in schöner Natur herumstreifte, konnte ich nachdenken und meinen Gedanken aufmerksam lauschen. Ich entschied mich genau dieses Thema zu verfolgen, denn es wartete bereits eine ganze Weile in meinem Hinterkopf auf eine Gelegenheit in Ruhe ergründet zu werden. Wenn man aber anfängt sich über das Leben Gedanken zu machen, dann lauert da auch immer sein Gegenspieler, der Tod. Und während ich spazierte, lud der Tod mich dazu ein mein Leben einmal von seinem Standpunkt aus zu betrachten.

In einem Gedankenexperiment stellte ich mir also vor, ich sei am Ende meines Lebens angekommen und würde auf mein Leben zurückblicken. Ich ließ dabei den genauen Zeitpunkt offen.

Was würde ich dann gerne sehen?

Als Erstes fielen mir meine Kinder und mein Mann ein. Am Ende meines Lebens möchte ich gerne sagen können, dass meine Kinder und mein Mann sich von mir geliebt fühlten. Manchmal vergesse ich im Alltagstrott und Stress, wie wichtig mir das ist. Ich habe mir also vorgenommen, vor allem die Kindheit meiner Kinder und die Zeit mit meinem Mann so schön wie möglich zu gestalten: mit viel Lachen, viel Gemeinsamkeit, viel Wärme und viel ungeteilter Aufmerksamkeit. Und ich habe mir vorgenommen, mich nicht durch unwichtige Dinge (Erreichen irgendwelcher Ideale, Stress, To-Do Listen, etc) von diesem Ziel abbringen zu lassen. Dass meine Familie sich von mir geliebt fühlt ist ein Kernelement, das mit darüber entscheidet, ob ich mein Leben gut gelebt oder vergeudet haben werde.

Als nächstes fiel mir mein Buch ein. Bevor ich zu dem Spaziergang aufgebrochen bin fühlte ich mich ein wenig deprimiert. Ich hatte bereits einiges an Zeit und Energie in den ersten Teil meines Buches gesteckt, musste aber feststellen, dass die Qualität noch ziemlich zu wünschen übrig lässt. Ich fühlte mich ein wenig mutlos, da ich schätzte, dass die Überarbeitung noch sehr viel Zeit in Anspruch nehmen würde, und ich ständig das Gefühl habe, für nichts genügend Zeit zu haben. Jetzt stellte ich mir vor, ich würde morgen sterben und ich hätte mein Buch nicht beendet. Wäre das schlimm? Tatsächlich stellte ich fest, dass ich es nicht bereuen würde. Ich bin jenen Autoren dankbar, die Bücher geschrieben haben, die mich bewegt, unterhalten oder inspiriert haben, und wenn ich kann, würde ich auch gerne so ein Buch schreiben um etwas zurückzugeben, meinen Teil beizutragen. Aber wenn das nicht klappen sollte, dann weiß ich doch, dass es genug andere Schriftstellerinnen da draußen gibt, die diese Aufgabe übernehmen werden. Das Schreiben an sich jedoch ist mir sehr wichtig (Kernelement), weil es mir Spaß macht und mir Energie gibt und ich würde bereuen, mir nicht Zeit fürs Schreiben genommen zu haben. Aber ich brauche nicht betrübt zu sein, weil ich mit meinem Buch immer noch am Anfang stehe, denn seine Vollendung ist kein Kernelement, welches darüber entscheidet, ob ich mein Leben gut gelebt habe. Diese Erkenntnis gibt mir die nötige Gelassenheit um mich wieder mit Freude auf mein Herzprojekt zu stürzen, an ihm zu feilen und weiterhin das Schreiben zu üben, bis das Buch die Qualität erreicht, die es verdient. Und vielleicht lebe ich ja doch lange genug, dass es für eine Veröffentlichung reicht 😉

Es gibt noch viele weitere Dinge, die ich gerne sehen möchte, wenn ich auf mein Leben zurückblicke. Zum Beispiel, dass ich für meine Familie und meine Freunde da war, wenn sie mich brauchten. Dass ich nicht nur an mich gedacht habe, sondern meine Wünsche auch mal für andere zurückstecken konnte und mich für jene stark gemacht habe, die meine Unterstützung gut gebrauchen konnten. Ich möchte sehen, dass ich gute Werte vertreten und nach ihnen gelebt habe. Ich fände es schön zu sehen, dass ich viele schöne und spannende Dinge gesehen und erlebt habe. Dass ich bis zum Ende dazu gelernt und weiser geworden bin. Ich möchte noch reisen und Dinge erleben. Ich möchte einfach noch so viel. Das genaue Ziel meiner Reisen und das, was ich erleben und lernen möchte sind jedoch unbestimmt. Dies sind eher die Bonus-Dinge, die ich gerne mitnehme, die aber nicht essentiell sind. Sie bereichern mein Leben und machen es bunter. Es geht mir vor allem darum mit offenen, interessierten Augen durchs Leben zu gehen und die Schönheit im Alltag zu sehen. Und während ich mein Leben mit schönen Dingen fülle, werde ich versuchen die mir wichtigen Kernelemente nicht aus den Augen zu verlieren.

Und was ich wirklich unbedingt sehen möchte ist, dass ich viel gelacht habe und ausgelassen und fröhlich war (Kernelement). Ich bin mir dessen bewusst, dass ich unter sehr glücklichen Bedingungen lebe (Gesundheit, Frieden, finanzielle Versorgung, Ausbildung, etc.) und ich würde es bereuen, wenn ich diese guten Voraussetzungen nicht für ein heiteres Leben genutzt, sondern mit Blödsinn vergeudet hätte.

Was möchte ich also nicht sehen, wenn ich auf mein Leben zurückblicke?

Ich möchte nicht sehen, dass ich mich unnötig gestresst habe. Mir fällt es immer mal wieder auf, dass ich Idealen hinterherjage, die eigentlich großer Blödsinn sind. Ich werde am Ende meines Lebens nicht denken „Wie gut, dass mein Haus immer so ordentlich aufgeräumt war“ oder „Wie effizient ich doch die To-Do Listen abgearbeitet habe!“ oder „Wie gut, dass ich niemals Fehler gemacht habe“. Ich möchte am Ende meines Lebens nicht erkennen müssen, dass ich mir Erwartungen von außen zu eigen gemacht habe und mich unter Druck habe setzen lassen, wobei ich ein viel entspannteres und fröhlicheres Leben hätte führen können. Oft wird einem zudem suggeriert, dass man immer irgendetwas tun muss, sich immer mit irgendetwas beschäftigen muss, damit man sein Leben nicht vergeudet, oder schlimmer noch, faul oder langweilig ist. Aber der Glaube „Du bist gestresst, das heißt du arbeitest viel, das heißt du bist wertvoll“ hat mit meiner Idee von einem guten Leben nichts gemein. Ich möchte immer noch ein aufgeräumtes Haus haben, aber einfach weil es mich nervt so viel Zeit beim Suchen zu verlieren. Und To-Do Listen nutze ich, um meinen Kopf von mental load zu befreien, und nicht, um mich zusätzlich zu stressen. Und Fehler und Misserfolge gehören zum Leben dazu. Im besten Fall lernt man eine wichtige Erkenntnis, und die allermeisten werden am Ende meines Lebens entweder völlig nichtig, oder komplett aus meiner Erinnerung verschwunden sein. Ich möchte lernen und ich möchte Neues erfahren und ausprobieren und dazu gehört eben auch mal in die falsche Richtung zu laufen. Ich hoffe einfach, dass ich auf meinen Um- und Irrwegen interessante Dinge zu sehen bekomme.

Und damit ich nicht bereuen muss, mir das Leben unnötig schwer gemacht zu haben, möchte ich unbedingt daran arbeiten, gelassener zu sein und einfach die Schultern zu zucken (Es ist, was es ist), statt krampfhaft zu versuchen, etwas durchzudrücken (Kinder sind tolle Übungspartner, die reagieren nämlich überhaupt nicht mehr, wenn man anfängt zu stressen, was einen gerne noch gestresster werden lässt :D). Ich möchte viel mehr im Hier und Jetzt sein, statt ständig mit meinem Kopf woanders. Deswegen möchte ich mich stärker ins Thema Mindfulness hineinarbeiten und versuchen, mehr zu leben, statt zu funktionieren. Ich möchte zudem viel öfter langsam laufen, im wörtlichem wie übertragenem Sinne. Langsam ist mein ganz eigenes Tempo. Der Spaziergang im Schneckentempo war genau das Richtige für mich. Ich war im Einklang mit mir selbst, und das kann ich nur sein, wenn ich nicht versuche, mit einer mir uneigenen Geschwindigkeit mitzuhalten. Das ist wie beim Schwimmen. Ich kann stundenlang schwimmen, wenn ich mein eigenes Tempo anhalte. Versuche ich mit jemand anderes mitzuhalten finde ich keinen Rhythmus und verliere in kürzester Zeit all meine Energie. Ich kann nichts dafür, dass die Welt sich so schnell dreht, mein Tempo ist es jedenfalls nicht. Wenn ich physisch wie mental gesund bleiben möchte, und mein Leben genießen möchte, muss ich meinen eigenen Rhythmus berücksichtigen.

Wenn ich meine Kernelemente kenne und beherzige, brauche ich keine Angst haben, am Ende etwas zu bereuen, egal wie lang mein Leben ist.

Ich bin mir dessen bewusst, dass die Dinge, dir mir wichtig sind, in meinem Kopf an Wichtigkeit gewinnen und verlieren, und nicht unbedingt im Außen. Wenn ich mich und mein Leben vom Weltall aus betrachte, dann zählt das alles nicht viel mehr als ein Flohpups. Wenn die Menschheit sich entgegen meiner Erwartungen (oder gemäß meiner Erwartungen, ich schwanke da manchmal) doch selbst vernichtet, dann dreht sich die Erde halt ohne sie weiter. Aber mir sind Klimaschutz, oder besser gesagt, Menschenschutz/Artenschutz eben wichtig und dementsprechend möchte ich Entscheidungen treffen. Ob mein Leben gut genutzt oder verschwendet sein wird, wird im Großen Ganzen der Existenz aller Dinge egal sein, und ob ich überhaupt auf mein Leben zurückblicken kann oder tot bin, bevor ich weiß, was mit mir geschieht ist natürlich auch die Frage, aber hereingezoomt in mein Leben und mit der Frage konfrontiert, wie ich mein Leben sinnstiftend gestalten kann, hilft mir dieses Gedankenexperiment ungemein.

Ich werde versuchen immer mal wieder inne zu halten und dieses Gedankenexperiment durchzuführen um herauszufinden, was mir wichtig ist und wie ich die Kernelemente schon jetzt in meinem Alltag beherzigen kann, damit ich nicht irgendwann erkennen muss, dass mein Leben kürzer ist als erwartet und ich die mir geschenkte Zeit mit Dingen vertan habe, die sich im Nachhinein als belanglos herausstellen, und die mich von dem abhielten, was ich eigentlich immer hatte tun wollen. Ich habe nun das Gefühl klarer zu sehen und die Prioritäten schon besser zu setzen um mein Ziel zu erreichen. Ich glaube, wenn ich stürbe und ich hätte bis dahin meine Kernelemente beachtet, hätte mich im Spiel mit meinen Kindern verloren statt im Kopf ganz woanders zu sein, hätte meinem Mann wirklich zugehört wenn er mir etwas mitteilen wollte und ihn oft gedrückt, hätte meinen Lieben gesagt, was sie mir bedeuten, hätte mir Zeit für die Dinge genommen, die mich erfreuen, hätte mich von Dingen distanziert, die mir nichts bedeuten, hätte mich nicht wegen Dingen stressen lassen, die genau betrachtet völlig belanglos waren, und hätte mich authentisch durchs Leben bewegt, dann würde ich nichts bereuen und dankbar sein für mein Leben, egal wie lang es letztendlich gewesen wäre. Jetzt stellt sich nur die Frage: Wie sieht ein gelungenes Leben für dich aus, und bist du auf dem richtigen Kurs?

Viva la Vulva

Habe ich zu große Schamlippen? Vielleicht hast du dir diese Frage auch schon einmal gestellt. Aber ich kann dich beruhigen: Deine Vulvalippen sind ganz bestimmt nicht zu groß! (Merke, ich spreche von Vulvalippen, weil “Scham”lippen so ein bescheuertes Wort ist, und ich immer öfter Vulvalippen lese und wirklich hoffe, dass sich dieses Wort auch im Alltags-Sprachgebrauch durchsetzen wird. Aber zurück zum Thema.) Ich bin vor langer Zeit einmal auf das Thema “zu große Vulvalippen” gestoßen und fragte mich zum ersten Mal in meinem Leben, ob meine Lippen vielleicht auch zu groß sein könnten. Groß waren sie ja, aber zu groß? Ich las von Operationen, die die überdimensionierten Lippen in die “richtige” Größe bringen könnten. Was es nicht alles gibt! Aber wann sind die Lippen denn zu groß, fragte ich mich. Gibt es dafür eine Richtlinie? Ich konnte keine finden! Es gab nirgends eine Übersicht darüber, welche Länge im Normalbereich lag, und ab wann die Lippen “zu groß” waren. Mh! Wie sollte ich denn dann herausfinden, ob sie nun zu groß waren, oder nicht? Und ob ich eine Operation benötigte, oder nicht.

Ich erinnerte mich daran, dass mein Gynokologe nie etwas in die Richtung erwähnt hatte. Und er hatte ja schon viele Vulven gesehen und hätte sicher etwas gesagt, wenn meine aus der Norm gefallen wäre.

Das Internet war ein guter Ort um sich Komplexe anzueignen, aber auch, um sie abzulegen. Ich las von solchen, die große Vulvalippen abstoßend fanden. Und von anderen, die sie wunderschön fanden. Geschmackssache, schien mir. Mich beruhigte jedenfalls, dass es auch Männer gab, die sie schön fanden. Dann musste ich mich einfach an jene halten.

Außerdem fand ich nach ein bisschen Recherche “The Great Wall of Vagina”, die mir zeigte, dass Vulven und Vulvalippen in allen erdenklichen Größen und Formen daher kamen. Einige von ihnen hatten Ähnlichkeit mit meiner, also war meine sicher ganz in Ordnung!

Aber, und das deutete doch auf “zu große” Vulvalippen hin, war mir das Fahrradfahren schon öfters unangenehm. Vielleicht wäre es nicht ganz so unangenehm, wenn ich kleinere Vulvalippen hätte. Vielleicht waren meine ja doch zu groß. Aber nein! Und das habe ich erst vor kurzem erfahren: Nicht unsere Vulven sind das Problem, sondern die Fahrradsättel, die entsprechend der männlichen Physiologie entwickelt wurden! Frauensättel sind in der Regel kleine Männersättel. Aber Überraschung: Frauen sind keine kleinen Männer. Männer sind ja auch keine großen Frauen. Und zwischen unseren Beinen sehen wir auch ganz anders aus. Nicht wenigen Frauen ist das Fahrradfahren auf Dauer unangenehm. Aber es gibt eine Lösung! Und damit meine ich nicht, die Vulvalippen zu verstümmeln, sondern Fahrradsättel, die entsprechend der weiblichen Anatomie entworfen wurden. Zum Beispiel haben sie ein Loch von der richtigen Größe, sodass die Vulva nicht ständig gedrückt und gerieben wird, was auf Dauer einfach unangenehm ist.

Statt also Frauen einzureden, sie seien nicht richtig und müssten sich selbst anpassen, weil Dinge, die der Durchschnittsmann ohne Probleme benutzen kann ihnen Probleme bereiten – selbst dann, wenn diese Dinge verkleinert und sogar pink angemalt wurden – sollten wir uns immer wieder daran erinnern, dass Männer eben keine großen Frauen sind, und das Verkleinern von Dingen eben nur begrenzt hilft. Statt Frauen einzureden, dass sie sich erst verstümmeln lassen müssen, damit es passt – oder sie einer Pappnase von Mann gefallen – sollte viel öfter geprüft werden, ob Alltagsgegenstände der Anatomie von Frauen gerecht werden. Und dort, wo diese Gegenstände eben nicht passen, sollten diese entsprechend angepasst werden, und nicht die Frau. (Und Pappnasen sollten überlegen, ob ihr Schönheitsideal zu viel von Pornos beeinflusst ist, und ob Einheitsvulven wohl realistisch sind. Die Penisse von Männern sind schließlich auch nicht alle gleich, nicht wahr?)

Ich werde mir jetzt erst einmal einen richtigen Sattel zulegen. Ich bin lange genug auf Sätteln herumgerutscht um eine halbwegs angenehme Position zu finden. Es reicht.

Fesseln im Kopf

Wie frei sind wir eigentlich?

Wenn ich mein Leben betrachte, dann würde ich sagen, dass ich im Allgemeinen und vor allem im Vergleich zu vielen anderen Menschen sehr frei bin. Zum Beispiel konnte ich entscheiden ob und was ich studiere; wo, und sogar in welchem Land ich leben möchte; ich konnte meinen Partner selbst wählen und auch ob und wann ich heirate; ich konnte frei entscheiden ob und wie viele Kinder ich bekomme; und im Alltag kann ich auch einfach „Nein“ sagen, wenn ich etwas nicht möchte. Aber dennoch gibt es Barrieren, die mich in meiner Freiheit einschränken. Dabei denke ich nicht an physische Barrieren, Mauern oder dergleichen, sondern mentale Barrieren, die ich hier Fesseln im Kopf nenne: Glaubenssätze, die uns unnötig in unserer Freiheit beschränken. Oft haben wir sie so verinnerlicht, dass wir sie für wahr halten und uns ihnen bereitwillig unterwerfen. Stellen wir ihre Richtigkeit allerdings doch einmal in Frage besteht die Chance, dass wir diese mentalen Barrieren überwinden und so zu noch mehr Freiheit gelangen können.

Mentale Fessel Beispiel 1: Ohne Schminke bin ich hässlich

Eine meiner mentalen Fesseln war das Thema Schminke. Ich weiß nicht genau, wann ich damit anfing mich zu schminken, aber ich denke, dass ich vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt war. Zu meinem Standard-Programm gehörte Make-up, um meine Haut ebenmäßig aussehen zu lassen; Rouge, um meinem Gesicht wieder ein bisschen frische Farbe zu verleihen, nachdem das Make-up alles einfarbig gemacht hatte; Lippenstift, damit meine Lippen nicht so blass wirkten und Kajal, damit meine Augen schön zur Geltung kamen. Irgendwann schminkte ich mich täglich und so wurde mein geschminktes Gesicht im Lauf der Zeit zu meinem „richtigen“ Gesicht, und wenn ich mich morgens nach dem aufstehen im Spiegel betrachte dachte ich „Uff. Da müssen wir erst etwas machen.“ Ich hatte mich so an das geschminkte Gesicht gewöhnt, dass ich nicht ich selbst war, wenn ich mich nicht geschminkt hatte. Dann war ich hässlich und fad, wobei ich doch in Wirklichkeit schön war. Einmal ging ich ungeschminkt zur Schule und alle fragten mich, ob es mir nicht gut ginge, denn ich sei so blass. Ich habe damals nicht gedacht „Ich wirke blass, weil sie mich nur mit Make-up kennen und sie es nicht gewohnt sind meine helle Haut zu sehen.“ sondern „Ohne Make-up sehe ich kränklich und hässlich aus“. So wollte ich natürlich nicht wahrgenommen werden. Das ging so weit, dass ich mich ungeschminkt nicht aus dem Haus traute (ernsthaft!), und es mir äußerst unangenehm war, wenn plötzlich Besuch auftauchte und ich ungeschminkt zur Tür gehen sollte. Mich zu schminken war keine freie Entscheidung, denn mich nicht zu schminken war keine Option. Ich hätte mich gar nicht nicht schminken können.

Wie konnte es soweit kommen, dass ich mich nicht traute mein nacktes Gesicht der Öffentlichkeit zu präsentieren?

Wäre ich in einer Gemeinschaft aufgewachsen, in der sich niemand geschminkt hätte, wäre mir das sicherlich nicht passiert. Aber nicht-geschminkte Gesichter waren die Ausnahme. Meine Mutter schminkte sich; meine Freundinnen schminkten sich; die meisten Frauen um mich herum schminkten sich; in Filmen, Fernsehen und Zeitschriften waren ausschließlich geschminkte Frauen zu sehen. Mit meinem ungeschminkten Gesicht konnte ich im Vergleich nicht mithalten, und wenn ich als schön – oder zumindest nicht hässlich – wahrgenommen werden wollte, musste ich nachhelfen. Ich hatte wohl Glück, dass meine Mutter mich nur ermutigte („Du hast so schöne Augen und einen so tollen Mund, wenn du sie nur etwas betonen würdest, würde das umwerfend aussehen“), denn eine damalige Freundin wurde von ihrer Mutter mit den Worten „Wenn du dich nicht schminkst, nehme ich dich nicht mit zum shopping“ dazu gezwungen sich zu schminken. (Ich dachte erst sie hätte gesagt „Wenn du dich schminkst, nehme ich dich nicht mit“ aber es war genau anders herum.) Ich bekam zudem positives Feedback: Mir wurde gesagt oder durch zum Beispiel Flirten mitgeteilt, dass ich gut aussehen würde und ich wollte mir und der Welt dieses Bild erhalten. Ich wollte schön sein und hatte Angst davor, dass Leute, wenn sie mich ungeschminkt sehen würden, feststellen könnten, dass ich ja eigentlich gar nicht so gut aussehen würde, und in Wahrheit alles mehr Schein als Sein war.

Es gab jedoch 4 Aspekte, die mir dabei geholfen haben mich der Schmink-Fessel zu entledigen:

1) Wut

Zum einen wuchs meine Wut darüber, dass Frauen sich schminken mussten, Männer aber nicht. Männer durften ihr nacktes Gesicht zeigen, aber das Gesicht einer Frau war nicht in Ordnung? Es musste erst geglättet und bemalt werden, bevor es der Öffentlichkeit präsentiert werden konnte? Diese Ungerechtigkeit machte mich sauer und ließ mich erkennen, dass hier etwas nicht stimmen konnte, nicht stimmen durfte. Zum anderen empfand ich Wut darüber, dass es der Kosmetikindustrie, der Werbung und den Medien gelungen war den Gedanken in meinem Kopf zu verankern, dass ich Schminke brauchte um „normal“ auszusehen und um mich in der Öffentlichkeit frei bewegen zu können. Dass ich mich dermaßen in meiner Freiheit habe einschränken lassen, und dass ich mich dem jahrelang unterworfen habe, erzürnte mich zusätzlich.

2) Wenn ich ganz allein auf der Welt wäre?

Die Frage „Was würde ich tun, wenn ich alleine auf dem Planeten wäre“ hilft mir oft dabei darüber zu entscheiden, ob ich etwas wirklich selbst will, oder ob ein etwaiger Druck von außen auf mich wirkt. Die Frage, ob ich mich weiterhin schminken würde, musste ich mit „Nein!“ beantworten. Solange ich nicht in einen Spiegel schaute, konnte ich ja einfach so tun, als sei ich hübsch, und bräuchte dann auch kein Make-up (Darüber wütend zu sein, dass ich mir hatte einreden lassen, dass ich ohne Schminke hässlich war reichte nicht um meine Wahrnehmung diesbezüglich auf Anhieb zu verändern). Wenn ich also im Allein-Fall keine Schminke tragen würde, im echten Leben aber wohl, musste irgendein Druck auf mich wirken, der mich dazu veranlasste, entgegen meinem eigenen Wunsch doch Make-up aufzulegen.

Ich verstand nun, dass ich eigentlich gar kein Make-up tragen wollte, denn zum einen war es unglaublich unfair, dass ich mich dermaßen unter Druck gesetzt fühlte mich zu schminken, nur weil ich eine Frau war, und zum anderen begriff ich, dass ich es nicht tun würde, wenn ich alleine wäre. Da es mir wichtig ist den Einfluss von außen, wo es möglich ist, zu begrenzen, verstand ich, dass ich mich dem gefühlten Druck entgegen stemmen musste. Ich wollte also von der Schminke weg, aber das war gar nicht so einfach. Es war nicht so, dass ich plötzlich dachte „Alles quatsch, du bist auch ohne Schminke schön, du brauchst das alles gar nicht.“ Im Gegenteil. Ich war davon überzeugt ohne Schminke ganz schlimm auszusehen, und meine ersten Versuche ungeschminkt in die „Öffentlichkeit“ zu gehen, führten mich weit weg von zuhause in die Natur, wo mich bestimmt niemand sehen würde, der mich kannte. Und immer wenn ich jemandem begegnete dachte ich „Der sieht mich an und denkt sicher, dass ich krank und hässlich aussehe.“ Mein gesamter Fokus war auf mein Gesicht und auf die Reaktionen der anderen gerichtet. Und alle Reaktionen waren negativ, mussten es sein, zumindest sah so die Realität in meinem Kopf aus. Es war eine echte Qual! Ich fühlte mich miserabel und war froh, wenn ich wieder zuhause und alleine war. Ich stellte fest, dass ich mich nicht einfach nicht schminken konnte und beschloss, Schritt für Schritt die Schminke zu reduzieren. Erster Schritt: Meine Augen ungeschminkt zu lassen. Das war schon heftig, war ich es doch gewohnt, dass meine Augen dunkel umrandet waren. Plötzlich waren sie so fad. Aber egal, ich hatte ja noch meine Lippen. Es dauerte lange, aber irgendwann hatte ich mich an meine Augen gewöhnt. Nächster Schritt: Lippenstift weglassen. Jetzt sah ich schon fast ungeschminkt aus. Das Make-up und bisschen Rouge ging als „natural look“ durch. Ich sah noch okay aus, denn immerhin sah meine Gesichtshaut ebenmäßig und frisch aus, und damit konnte ich leben.

3) Make-up zu küssen ist nicht schön

Zu dieser Zeit lernte ich meinen jetzigen Mann kennen. Und der sagte mir irgendwann einmal, dass er es eigentlich nicht so schön fand, statt meine Wangen das Make-up und Rouge auf meinen Wangen zu küssen. Und ich überlegte und stellte fest, dass ich es selbst auch nicht prickelnd finden würde, wenn er Make-up tragen würde und ich ständig das Make-up an meine Lippen bekäme. Ich ließ dann auch Make-up und Rouge weg und fand mich nicht schön. So ein ausdrucksloses, fades Gesicht sollte meins sein? Puh! Aber gut, dann war es eben so. Ich war nicht schön, aber immerhin war ich endlich diese Schminke los. Kein all-morgendliches Schminken, kein all-abendliches Abschminken: War das schön! Ich mochte noch nicht zu lange mein Gesicht ansehen, aber dass ich weder Schminke kaufen, noch es auf- und abtragen brauchte, war schon nett. Außerdem hatte ich – seit ich meine Augen nicht mehr schminkte – morgens auch keine verquollenen Augen mehr. Ich hatte immer gedacht, dass sie durch die Hausstaub-Milbenallergie bedingt waren und stellte dann erst fest, dass es durch den Kajal kam. Jahrelang verquollene Augen! Herrje!

4) In fünf bis zehn Jahren bin ich heute schön

Vor einer Weile ist mir aufgefallen, dass wenn ich mir Fotos von früher ansehe, ich mich selbst schön finde, dabei weiß ich, dass ich mich damals ganz und gar nicht schön gefunden habe. Und ich frage mich, warum ich bloß so kritisch war. Warum war mir damals nicht aufgefallen, dass ich gut aussah? Warum habe ich bloß immer nur vermeintliche Makel gesehen? Und trotzdem, wenn ich dann neuere Fotos von mir selbst sah oder mich im Spiegel betrachtete war da immer noch die Neigung genau diese vermeintlichen Makel in den Fokus zu setzen. Wahrscheinlich, dachte ich, werde ich in fünf oder zehn Jahren auf die Fotos von heute zurückblicken und denken: Warum war ich bloß so kritisch? Ich habe doch toll ausgesehen! Und ich fragte mich warum ich fünf oder zehn Jahre warten soll, bis ich mich so positiv betrachte. Das ist doch Schwachsinn! Ich überspringe einfach die Jahre, höre auf mich kritisch zu prüfen, sehe einfach was ist, nämlich mein einzigartiges Gesicht, mit all den Unebenheiten, Fältchen, Rötungen, aber auch mit den großen Augen, vollen Lippen, dem freundlichen Lächeln (zumindest wenn ich gut drauf bin), einfach mein Gesicht, und erfreue mich daran, schon jetzt. Auch ist mir aufgefallen, dass wenn ich mir vorstelle, ich würde das Gesicht einer anderen Person betrachten, ich es viel weniger kritisch und viel wohlwollender ansah. Wieso glauben wir bloß ständig mit uns selbst so verdammt kritisch sein zu müssen? Ich habe jedenfalls beschlossen, genau diesen Blick für mich selbst beizubehalten und mich nicht mehr beirren zu lassen.

Mein Schönheits-Verständnis hat sich verändert. Entsprach es zuvor der Ideal-Standard-Schönheit, die darauf abzielt, uns alle in das gleiche Förmchen zu pressen, sodass wir alle gleich aussehen, schätze ich jetzt die Authentisch-Vielfalt-Schönheit, die in jedem Menschen Schönheit findet, weil jedes Gesicht einzigartig ist. Mit diesem Verständnis fällt es mir leicht in den Spiegel zu blicken und mich schön zu finden, und dieses gelassene Gefühl hat sich auf meinen gesamten Körper ausgedehnt.

Mentale Fessel Beispiel 2: Ich bin gar nicht so klug, aber das darf niemand wissen

Ich musste mich dazu überwinden, etwas, das ich geschrieben hatte, auf der Webseite zu veröffentlichen, denn ich befürchtete, dass jene, die mich kennen, die Texte lesen und feststellen könnten, dass ich ja gar nicht so gescheit bin, wie sie gedacht hatten. Wie beim Thema mit der Schminke wollte ich das gute Bild, dass sie von mir hatten, nicht kaputt machen. Ich dachte also, dass wenn ich einen Text veröffentliche, dieser Text einwandfrei sein muss. Das Problem war nur, dass ich nicht sagen konnte, ob der Text wirklich gut, okay, oder eben nicht gut war. Und jedes Mal wenn ich den Text las, an dem ich gerade arbeitete, gefiel mir dieses oder jenes noch nicht und ich dachte immerzu, dass der Text noch präziser, noch deutlicher werden müsste, bevor ich ihn „der Welt“ präsentieren konnte. Zudem war es wichtig, dass ich den Artikel ganz alleine in eine perfekte Endfassung zu bringen wusste. Ich musste all das ganz alleine schaffen, nur dann war sichergestellt, dass ich es auch wirklich drauf hatte. Aber so machte das Schreiben keinen Spaß mehr. Ich drehte mich im Kreis, weil ich das Gefühl hatte der Text könnte unmöglich je richtig gut sein, und so ließ ich verschiedene angefangene Artikel immer wieder ruhen und fing an einen neuen Artikel zu schreiben, mit letztendlich immer dem gleichen Problem. Wenn ich dann doch einen Artikel veröffentlichte wartete ich immer ungeduldig auf das erste Feedback um zu erfahren, ob ich den Artikel schnell wieder entfernen und erst noch einmal überarbeiten sollte, oder ob er so in Ordnung war und ich mich seiner nicht zu schämen brauchte. Und als mir das endlich richtig bewusst wurde, dass die Sorge um mein Image nach außen mich davon abhielt das zu tun, was ich eigentlich tun wollte, nämlich Texte zu schreiben und zu veröffentlichen, erkannte ich, dass ich daran etwas ändern musste. Wie bei vielen anderen Themen wurde auch hier wieder deutlich, dass ich versuchte, mein Selbstbild zu schützen. Wenn ich nichts veröffentliche, kann auch niemand sagen, dass das, was ich schreibe, schlecht ist, und ich bewahre anderen und mir selbst die „Illusion“, dass ich ganz wunderbar, klar und strukturiert schreiben kann. Mir fiel zudem auf, dass ich mir selbst unglaublich im Weg stand. Wenn ich nicht offen stehe für negative, bzw. konstruktive Kritik, kann ich unmöglich meine Technik je verbessern. Dann kann ich zwar so tun, als könnte ich gut schreiben, bleibe aber immer auf demselben Level stehen. Viel sinnvoller wäre es, das, was ich schreibe so vielen Menschen wie möglich zu zeigen und so viel (nützliches) Feedback wie möglich zu erhalten, um so meine Schreibkunst tatsächlich zu verbessern. Mein eigentliches Ziel, anderen Menschen durch mein Schreiben etwas mitzuteilen war in den Hintergrund getreten und stattdessen wurde das Schreiben zu einem Instrument um mich zu profilieren. Oder eben auch nicht, schließlich fürchtete ich mich davor mich angreifbar zu machen, und scheute davor zurück viel zu veröffentlichen. Es war also wichtig mich darauf zu besinnen, warum ich in erster Linie die Webseite erstellt hatte: 1) Anderen meine Gedanken uns Ansichten mitzuteilen, von denen ich annahm, dass sie den ein oder anderen interessieren könnten. 2) Meinen Schreibstil zu verbessern.

Es ging nicht darum auf Anhieb perfekte Artikel zu schreiben, sondern die Webseite zu nutzen, um immer wieder zu üben und zu lernen, was funktioniert und was nicht. Mich auszuprobieren, und vor allem: Feedback zu erhalten und gegebenenfalls meine Artikel entsprechend zu überarbeiten, oder neu Gelerntes in folgende Artikel einfließen zu lassen. Für mich war wichtig den Fokus weg von mir selbst zu bringen, und hin zum Mehrwert-für-andere-Gedanken. Wenn es vor allem darum geht Mehrwert zu schaffen, sollte ein Artikel zwar durchdacht, muss aber nicht mehr 100% perfekt sein. Es geht mehr um den Inhalt, statt darum, dass ich als besonders gescheit wahrgenommen werde. Und ich dachte, wenn jemand meinen Artikel liest und feststellt, dass sie/er den Gedanken besser herausarbeiten kann und sie/er schreibt dann selbst einen Artikel, der dann wieder herum vielen anderen Menschen etwas Brauchbares übermittelt, dann wäre das wunderbar. So habe ich ein Stück beigetragen und mit dafür gesorgt, dass etwas, wovon andere Menschen profitieren, in die Welt hinaus getragen wurde. Und darum geht es doch! (Ich denke nicht, dass meine Artikel zurzeit viele Menschen erreicht, aber der Gedanke zählt).

Bye, bye Ego

Ich denke, dass bei (fast) allen mentalen Barrieren der Schutz des Egos eine zentrale Rolle spielt. Wenn ich mich unter anderem darüber definiere schön und/oder klug zu sein, werde ich mich anstrengen, genau so auch wahrgenommen zu werden. Und alles, was dieses Selbst-/Bild ins Schwanken bringen könnte, zu vermeiden. Wenn mein Ego sich darauf stützt hübsch zu sein, werde ich besonders darauf achten, auch hübsch herumzulaufen. Wenn mein Ego sich darauf stützt klug zu sein, schmerzt es mehr wenn man Fehler macht oder nicht genug zu leisten glaubt. Wenn sich jemandes Ego darauf stützt beliebt zu sein und ein anderer verhält sich ablehnend, kann ihn das besonders kränken. Wenn das Ego sich darauf stützt besonders stark und unabhängig zu sein, wird man vor allem Probleme damit haben, sich Schwächen einzugestehen oder auf andere angewiesen zu sein. Wir verwenden so viel Energie darauf unser Ego und damit unseren Selbstwert zu beschützen, dass wir uns oftmals nicht mehr frei entscheiden und frei bewegen können. Wir begrenzen uns selbst auf einen kleinen Rahmen der Möglichkeiten um einem Bild zu entsprechen, das wir von uns selbst haben oder glauben, dass andere es von uns haben. Was aber passiert, wenn wir erkennen, dass viele unsere Gewohnheiten, automatischen Reaktionen, und Trigger, die uns dazu bringen in Verteidigungsmodus zu gehen, sich alle nur darum drehen etwas zu beschützen, das lediglich ein mentales Konstrukt ist? Nun, dann können wir uns überlegen, ob es nicht vielleicht an der Zeit ist aufzuhören einem „Ideal“ nachzueifern, und so viel Energie und Zeit in die Verteidigung eines Bildes zu stecken, und stattdessen lernen uns selbst wirklich anzunehmen. Statt also zu denken „Ich muss so schön sein, wie das Bild, das ich oder andere von mir habe/n!“ könnten wir denken „Ich bin so schön, wie ich schön bin.“ Oder statt: „Ich muss besonders klug sein, oder zumindest besonders klug erscheinen, damit andere mich bewundern“ könnte ich auch einfach die Achseln zucken und denken „Ich bin so klug, wie ich klug bin.“ Das geht mit allem anderen genauso: „Ich bin so stark, wie ich stark bin. Ich bin so schwach, wie ich schwach bin. Ich bin so nett wie ich nett bin. Ich bin so chaotisch, wie ich chaotisch bin.“ Schlussendlich: „Ich bin so wie ich bin.“ Wenn man die ganzen Bilder abwirft und einfach danach schaut, was da ist, ohne zu urteilen, ob das nun gut oder schlecht ist, sondern einfach anerkennt, dass es ist und dass man selbst ist, dann kann man aufhören die Energie und Zeit in die Aufrechterhaltung eines Bildes zu stecken und einfach leben. Ernsthaft, das geht!

Statt zu denken: Ich muss aber strukturiert und ordentlich sein und alles können, denke ich jetzt: „Mh, wenn ich mich hier so umsehe, dann stelle ich fest, dass mir Ordnung nicht ganz so wichtig zu sein scheint.“ Oder „Ich sollte wohl dies oder jenes tun, tue es aber nicht. Anscheinend setze ich andere Prioritäten oder habe andere Interessen oder andere Bedürfnisse“ Statt zu denken: „Oh man, wieso kann ich nicht endlich mal so oder so sein, das oder das gebacken kriegen, nur ein bisschen mehr dies oder jenes“, betrachte ich nun interessiert mein Handeln und versuche daraus abzuleiten, wer ich tatsächlich bin, was ich will und was ich brauche, statt zu versuchen einem Bild gerecht zu werden. Statt zu urteilen versuche ich einfach nur festzustellen und anzuerkennen. Und wenn ich das bei mir selbst übe, kann ich das auch bei anderen: Statt zu denken „Die macht es richtig, der macht es falsch“, übe ich mich in dem Gedanken „Aha, interessant: Sie macht es so, er macht es so.“

Mentale Barrieren zu erkennen ist manchmal gar nicht so einfach, weil sie sich irgendwann einschleichen und unser Handeln beeinflussen, welches bald darauf zur Gewohnheit wird. Ich glaube schon, dass es mir immer leichter fällt diese Barrieren zu erkennen und auch zu überwinden, weil ich gelassener mit mir selbst und meinen „Schwächen“ werde. Vor allem, wenn mir auffällt, dass ich eigentlich etwas tun möchte, aber die Anwesenheit anderer mich davon abhält, stelle ich mir schon mal schneller die Frage „Welches Bild von mir möchte ich aufrecht erhalten, was genau probiere ich zu schützen (nur mein Ego?), und ist es wirklich notwendig?“ Aber manchmal bedarf es auch eines kleinen Schubsers von außen, wie neulich, als ich meiner Schwester erzählt habe, dass ich im Garten nicht im Bikini herumlaufen wollte, weil mich dann Nachbarn und Spaziergänger sehen könnten. Sie war überrascht, dass mir das nicht egal war, und ich überlegte, was mich zurückhielt. Ich denke, dass ich befürchtete, dass ich meinen entspannten Blick auf meinen Körper nicht aufrecht erhalten können würde, wenn ich mich durch die Augen anderer betrachtete. Ich wäre gezwungen mich mit dem auseinanderzusetzen, was andere sehen könnten. Zum Beispiel könnten sie denken, dass ich wohl Eiscreme oder Entspannung auf dem Sofa dem Yoga Training gerade den Vorzug gab. Das wäre nicht vereinbar mit dem Bild, von dem ich wünschte, dass andere es hätten: Sporty-Ich. Aber wäre es falsch? Nein, es wäre genau richtig! Mein Bild ist eher Wunschdenken. Wenn ich jetzt jedoch einfach sehe was ist, und mich annehme wie ich bin, mich also von dem Bild verabschiede und die Realität begrüße, dann kann ich mich meiner mentalen Fessel entledigen. So war es mir dann doch noch möglich entspannt das Wasserspiel mit meinen Kindern zu genießen, sogar mit Haaren an den Beinen und ungeschminkt, aber mit zwei lachenden Kindern, mit denen zusammen ich schöne, neue Erinnerungen sammeln konnte. Und so es ist mir nun möglich einen nicht perfekten Artikel zu veröffentlichen, weil ich nicht mehr das Gefühl habe, mich beweisen zu müssen, sondern mich nun auf Feedback und Kritik, die mich weiterbringt, freue!

PS: Ich hätte noch eine Menge anderer Beispiele geben können, aber ich wollte diesen Artikel „kurz“ halten 😉 Falls du bei dir selbst mentale Barrieren entdeckst, die dich davon abhalten das zu tun, was du eigentlich tun möchtest, dann drücke ich dir die Daumen, dass du es schaffst dir deine Freiheit zurückzuerobern.

Mit besten Grüßen,

RE

Selbstverteidigung

Auf der Suche nach Informationen darüber, wie ich einen Hundeangriff im Fall der Fälle effektiv abwehren kann (vor allem jetzt, da ich zwei kleine Kinder habe erschien mir dieses Wissen als potentiell sehr nützlich) fand ich auch viele Videos zum Thema Selbstverteidigung gegen menschliche Angreifer und bin dann ein bisschen in diesem Thema versackt.

Ich habe als Jugendliche und als junge Erwachsene verschiedene Kampfkünste ausprobiert (Taekwondo, Boxen, Karate, Jiu Jitsu, Kickboxen), habe aber noch keinen Kurs gefunden, der mir das bietet, was ich suche, nämlich ein effektives Selbstverteidigungstraining. Stattdessen richtete sich der Fokus des Trainings vor allem auf das Vorbereiten auf Wettkämpfe oder das Erreichen des nächsten Gurts. Und weil der Aspekt der Selbstverteidigung, der Grund, warum ich überhaupt zum Training ging, viel zu kurz kam, verlor ich bald wieder das Interesse.

Kampfkünste eignen sich wunderbar als Ganzkörpertraining, da meist neben dem Erlernen der Techniken auch Ausdauer- und Krafttraining sowie Dehnübungen dazu gehören, aber wenn ich das Gefühl habe, auch nach Monaten des Trainings meinem eigentlichen Ziel, mich bei einem realen Angriff verteidigen zu können, nicht viel näher gekommen zu sein, dann reicht mir das nicht. Wonach ich suche ist ein Kurs oder ein Training, in dem ich Techniken lerne, die ich auch wirklich anwenden kann; in dem auch die Bedeutung der mentalen Vorbereitung berücksichtigt wird; in dem ich auf möglichst realistische Angriffe vorbereitet werde (statt auf Wettkampfsituationen, in denen die Regeln klar umrissen sind); in dem ich nicht beim Training durch ständige Verletzungen „abgehärtet“ werde für einen Kampf, der vielleicht nie erfolgt, sondern der darauf abzielt Verletzungen zu verhindern; der mir zeigt, wie ich mich gegen einen physisch stärkeren Gegner behaupten kann (und nicht nur gegen Gegner in meiner Gewichtsklasse); und der vor allem Techniken verschiedener Kampfkünste kombiniert, sodass ich auf möglichst viele verschiedene Angriffe angemessen reagieren kann (zB. Fernkampf, Nahkampf, Bodenkampf, harmloseres Befreien aus einem Griff, aber auch ernste Angriffe).

Ich denke, dass wenn man sich eine Kampfkunst aussucht und sie anständig erlernt und auch einen guten Trainer erwischt, der auch Selbstverteidigung und nicht nur Wettkampf im Kopf hat, dann kann man schon weit kommen. Immerhin hat ein Kampfkunsttraining oft den Vorteil, dass man mit einer anderen Person trainiert und übt und sehr schnell erkennt, wenn die Technik noch nicht richtig ausgeführt wird, oder man an seiner Deckung arbeiten sollte, wenn die Faust des Trainingspartners einen Weg an die Schläfe gefunden hat. Aber ich glaube auch, dass oft verkannt wird, wie wichtig es ist, sich auch mental und vor allem vielseitig vorzubereiten und sich zu überlegen, worauf man im Ernstfall alles achten muss. Denn wenn man zwar gut boxen kann, der Gegner einen aber von hinten würgt, oder man gelernt hat effektive Tritte richtig auszuführen, der Gegner aber einfach in einen rein läuft und einen umwirft, dann braucht man mehr als die Techniken, die eine einzige Kampfkunst einen lehrt. Ich denke, dass es vor allem auch wichtig ist die richtige Trainerin oder den richtigen Trainer zu finden, der das gleiche mindset und das gleiche Ziel hat (nicht Wettkämpfer auszubilden, sondern einen zu befähigen, sich mit allen Mitteln zur Wehr zu setzen). Vielleicht hat man auch das Glück und findet in einem solchen Kurs eine Gleichgesinnte und kann sich zusammen tun. Ich werde noch weitersuchen und vielleicht finde ich ja doch noch einmal einen Kurs, der meine Anforderungen erfüllt… Mir wurde Krav Maga empfohlen, aber auch da muss ich die richtige Trainerin/den richtigen Trainer finden, und das ist gar nicht so leicht!

Aber zurück zu meiner YouTube Reise durch die Selbstverteidigungs-Videos: ich habe viele, viele Videos gesehen, die Techniken zeigen, die ich als ziemlich nutzlos einstufe. Aber es gab auch Informationen und Denkanstöße, die mir zusagten. Und das, was ich sinnvoll fand, gepaart mit dem, was ich aus meinem Training noch mitgenommen habe, habe ich unten in einer Übersicht aufgelistet. Das ersetzt natürlich keinen richtigen Kurs, oder ein ordentliches Training, denn nur durch zugucken weiß man nicht, wie man am besten schlägt ohne sich selbst die Hand zu brechen, oder richtig tritt, ohne umzufallen oder umgeworfen zu werden. Außerdem gibt es so etwas wie muscle memory, und dazu bedarf es Wiederholung, Wiederholung, Wiederholung um sicherzustellen, dass man im Ernstfall eine Technik auch richtig anwenden kann. Aber ein paar Dinge kann man sich auch so schon einmal durch den Kopf gehen lassen. Die Übersicht habe ich erst einmal für mich selbst erstellt, um die Gedanken, die mir sinnvoll erschienen, schnell parat zu haben um sie mir immer mal wieder vor Augen zu führen, ohne dass ich all die Originalquellen wieder und wieder durchforsten muss. Ich setzte die Übersicht online in der Hoffnung, dass sie dir vielleicht auch ein paar nützliche Hinweise liefern, oder dich motivieren dich mit diesem Thema selbst einmal tiefgreifender zu befassen.

Kurzer“ Überblick über wichtige Aspekte bei der Selbstverteidigung

Kenne dich selbst

In dem Video, das ich dazu gesehen habe, hieß es, man solle überlegen, wie man wohl in einer Gefahrensituation reagiert. Das halte ich für relativ sinnlos, denn ob ich vor Panik einfriere oder mich tatsächlich brutalst zu Wehr setze, kann ich nicht vorab wissen.

Aber ich kann mir einige Dinge über mich selbst vor Augen führen, die mir in einer solchen Situation Entscheidungshilfen sein können. Zum Beispiel weiß ich, dass ich keine gute Läuferin bin. Würde ich versuchen einem Angreifer davon zu laufen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich nicht sehr weit komme, bis er mich zu packen bekommt, und ich dann auch noch ziemlich außer Atem sein würde. Das wären keine günstigen Voraussetzungen für mich. Wegrennen kann ich mir wohl nur dann erlauben, wenn ein sicheres Ziel in der Nähe ist und ich genügend Abstand zu meinem Angreifer habe, sodass mein Vorsprung meine Untrainiertheit wett macht. Zwar wird anscheinend in einer Gefahrensituation extra viel Blut in die Beine gepumpt um wegrennen zu können, aber ich denke dennoch, dass eine gewisse Trainiertheit nötig wäre, um einem Angreifer wirklich davonrennen zu können.

Ich bin groß (1.80m) und die Reichweite meiner Arme und Beine kann von Vorteil sein, zumindest ermöglicht sie mir andere Abwehr- und Angriffmöglichkeiten als zum Beispiel einer 1.50m großen Frau. Aber, wie ich kürzlich gelernt habe, können meine langen Arme auch meinem Angreifer nutzen. Es macht einen deutlichen Unterschied ob mich jemand in der Mitte meines Unterarms oder an meinem Handgelenk packt. Die Kraft, die ich anwenden muss um mich zu befreien ist größer, je länger mein Arm ist, bzw. je weiter unten er mich festhält.

Ich bin eine Frau, das heißt, dass meine Kraft eher in den Beinen steckt als in den Armen. Wenn mich ein Mann festhält werde ich wenig ausrichten können, wenn ich versuche, seine Arme einfach wegzudrücken, weil mir dazu wahrscheinlich die Kraft fehlt. Ich muss also einen anderen Ansatz finden.

Kenne deinen Gegner

Ich gehe davon aus, dass wenn ich je angegriffen werden sollte, der Angreifer mir ernsthaften Schaden zufügen will. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich in einer Ego-Rauferei ende ist extrem gering. Wahrscheinlicher ist, dass mich jemand vergewaltigen oder ausrauben möchte. Und auch wenn ich mein Portemonnaie nicht verteidigen würde, kann ich nicht einfach davon ausgehen, dass er sich damit zufrieden gibt. In einem Überwachungsvideo sah ich wie zwei Männer einer jungen Frau eine Flasche auf den Kopf hämmerten, bevor sie mit ihrem Handy davonliefen. Auch jemand, der einen mit dem Messer bedroht, sticht nach Übergabe des Geldes eventuell trotzdem zu. Jemand, der angreift, ist gewaltbereit und man kann nicht wissen, wie weit er geht. Er macht es sicherlich auch nicht zum ersten Mal. Ich muss zudem davon ausgehen, dass mir der Angreifer trotz meiner Größe körperlich überlegen ist, weil der Angreifer eher männlich, und eher größer ist als ich. Natürlich kann ich theoretisch auch von einer kleineren Frau angegriffen werden, aber ich halte es für nicht sehr wahrscheinlich.

Aufmerksamkeit

Du kannst dich nur effektiv verteidigen, wenn du deine Umgebung aufmerksam wahrnimmst. Dazu gehört, dass der Blick nicht zu Boden gerichtet ist, sondern das Kinn oben ist. Du kannst einer gefährlichen Situation nicht entkommen, indem du sie sie gar nicht erst wahrnimmst oder ignorierst. Ein Typ der sich verdächtig umsieht, oder an der Wand lehnt und dich anstarrt, oder ein Wagen, der plötzlich neben dir hält, wird nicht einfach verschwinden, wenn du keinen Augenkontakt herstellst und so tust als seist du nicht da. Auch ein Blick nach hinten lohnt sich um zu wissen, was einen dort erwartet, oder um zu sehen, ob es immer noch dieselbe Person ist, die hinter einem herläuft. Er sieht dich bestimmt, jetzt geht es darum, dass du ihn auch siehst und frühzeitig entscheidest, was du tust. Ich rede nicht davon, dich alle paar Sekunden panisch umzusehen. Aber wenn ich zum Beispiel abends alleine unterwegs bin, achte ich mehr darauf was sich um mich herum abspielt, als wenn ich tagsüber mit meinen Kindern und Freundinnen auf dem Spielplatz bin. Und wenn ich in einer Großstadt unterwegs wäre würde ich auch anders gucken, als beim Einkauf im Supermarkt.

Höre auf deinen Creep-Alarm

Wenn es um deine Sicherheit geht, brauchst du nicht politisch korrekt oder höflich zu sein. Wenn dir jemand verdächtig vorkommt oder du dich unwohl fühlst, nimm dieses Anzeichen ernst und reagiere entsprechend. Wechsle die Straßenseite und beobachte, wie die andere Person reagiert. Oder kehre frühzeitig um und versichere dich, dass er dir nicht folgt. Du musst nicht an einer Person vorbeilaufen, die dir nicht geheuer ist. Und wenn du nachts joggen gehst und ein Auto hält an mit der Bitte zu helfen, bleib nicht stehen, nähere dich dem Auto nicht, und glaube nicht, du müsstest helfen. Die Person kann jemand anderen fragen. Wenn du, warum auch immer, ein ungutes Gefühl hast, vertraue diesem Gefühl, auch wenn es sich im Nachhinein als unbegründet herausstellt. Lieber das, als wenn du deine Warnsignale ignorierst und die Möglichkeit versäumst einem Angriff zu entkommen, bevor er stattfindet.

Hände hoch!

Wenn du etwas wahrnimmst, dass dir nicht ganz geheuer ist und sich bedrohlich anfühlt, dann muss die erste Reaktion sein, dass du deine Hände hochnimmst. Sind deine Hände unten und ein Angriff erfolgt, wirst du deine Hände nicht rechtzeitig hochziehen können. Nur wenn deine Hände oben sind hast du immerhin eine Chance einen Angriff abzuwehren. Und vielleicht schaffst du es ja sogar deine Hände vor deinen Hals zu bekommen, bevor der Angreifer seinen Arm darum legt, wenn er dich von hinten würgen will.

Umgebungsfaktoren

Was ist deine räumliche Situation? Gibt es Treppen, die du heruntergeworfen werden kannst, oder die sich dazu eignen, deinen Gegner herunterzuwerfen? Gibt es Gegenstände, die sich dir oder deinem Gegner als Waffen anbieten? Zum Beispiel Messer in der Küche (Im Falle von häuslicher Gewalt wird geraten die Küche wenn möglich zu meiden). Oder (zerbrochene) Glasflaschen? Oder vielleicht Sand oder Dreck, der dir oder deinem Angreifer die Sicht nehmen kann? Gegenstände, über die du oder er fallen können? Wände, gegen die dein Angreifer dich drücken kann oder Säulen und Autos, die du nutzen kannst um einen Abstand zum Angreifer herzustellen? Sind andere Menschen in der Nähe, die eventuell helfen, oder aber auch gefährlich werden können?

Öffentlichkeit bedeutet nicht unbedingt Schutz

Wenn wir angegriffen werden, dürfen wir nicht erwarten, dass uns andere Menschen zur Hilfe eilen. Zum einen können andere Menschen Angst davor haben, selbst verletzt zu werden, wenn sie sich einmischen, zum anderen können psychologische Faktoren wie der Bystander-Effect greifen. Der Bystander-Effect beschreibt die Tendenz von Menschen eine Notsituation nicht als solche einzuschätzen und sich nicht verpflichtet zu fühlen einzugreifen, wenn andere Menschen auch anwesend sind, und auch nicht reagieren („Na, wenn auch die anderen nicht reagieren wird die Situation wohl nicht so schlimm sein“). Um diesem Effekt entgegenzuwirken kann es helfen eine einzelne Person eindeutig anzusprechen und um Hilfe zu bitten, sodass keine Unklarheit mehr darüber besteht, ob man denn nun wirklich Hilfe benötigt oder nicht. Einfach nur „Hilfe“ rufen, wird hingegen womöglich nicht viel bringen, weil ja dann noch immer jeder glaubt, dass die Situation nicht schlimm genug ist, weil auch die anderen weiterhin nicht in Aktion treten. „Sie dort, mit dem blauen Pullover, ja genau Sie, rufen Sie die Polizei, ich werde angegriffen.“ Keine Garantie, dass er hilft, aber einen Versuch ist es wert.

Viele Menschen glauben zudem immer noch, dass die Gewalt zwischen Partnern Privatsache ist und es sie nichts angeht. Als wäre die Gewalt zwischen Partnern weniger brutal oder weniger falsch als die Gewalt zwischen zwei Fremden. Wenn man also angegriffen wird, vor allem wenn eine Frau durch einen Mann angegriffen wird, sollte sie darauf achten ihren Angreifer zu siezten. Auch das garantiert keine Hilfe, aber sie wird eventuell etwas wahrscheinlicher als wenn Menschen glauben, ein Mann vergreift sich nur an seiner eigenen Freundin. Das siezten gilt natürlich auch im Kampf zwischen zwei Männern oder zwei Frauen, um auch nach außen hin zu verdeutlichen, dass man sich nicht kennt und dies kein harmloses Scharmützel ist.

Hemmungen überwinden

Ich bin wahrlich kein gewaltbereiter Mensch. Ich kann mich zwar sehr über meine Mitmenschen aufregen, aber ich würde sie nicht schlagen. Es sei denn sie würden mich oder meine Familie angreifen und ich müsste mich oder die meinen verteidigen. Wenn ich sehen würde, wie eine mir fremde Person angegriffen wird, würde ich wohl auch nicht so einfach dazwischen gehen. Ich bin weder so trainiert, noch so erfahren um glauben zu können, dass ich ungeschoren wieder heraus käme. Ich würde stattdessen die Polizei rufen.

Werde ich jedoch direkt angegriffen (ich beschränke mich im Weiteren auf den Angriff meiner Person) drohe ich auf jeden Fall verletzt zu werden, und die Gefahr ernsthaft verletzt zu werden ist höher, wenn ich mich nicht verteidige. Es ist also essentiell, dass ich in einer solchen Situation meine Hemmungen jemand anderen zu verletzen überwinde und, wenn nötig, mit all der mir zur Verfügung stehenden Brutalität dafür sorge, dass die Person von mir ablässt und mir nicht mehr gefährlich werden kann. (Wohl gemerkt, ich beziehe mich auf lebensbedrohliche Angriffe, jede Form von Selbstverteidigung muss verhältnismäßig sein).

Wenn es die Situation erlaubt würde ich (in Theorie zumindest) den potentiellen Angreifer warnen, dass ich die Situation als bedrohlich empfinde und er sich mir nicht nähern soll, da ich mich sonst mit allen Mitteln verteidigen werde. Aber wenn mich jemand packt und würgt habe ich keine Zeit zu verlieren und ich muss direkt realisieren, dass ein Griff zum Hals lebensbedrohlich ist und die ersten Sekunden entscheidend sind. Ich darf keine Scheu haben den Angreifer ernsthaft zu verletzen und auf seine Gesundheit darf keine Rücksicht genommen werden.

Wenn jemand die Absicht hat mich zu vergewaltigen, dann wird er mich vermutlich auch verprügeln, um mich gefügig oder wehrlos zu machen. Wenn es ihm gelingt mich zu Boden zu werfen, hat er davor wahrscheinlich schon auf mich eingeschlagen und ich werde womöglich benommen und bereits verletzt sein, und in einer solchen Situation die richtige Technik zu wählen und sie dann auch noch ordentlich auszuführen stelle ich mir schwierig vor, selbst wenn ich sie gut geübt habe. Aber vielleicht erinnere ich mich an simplere Dinge, zum Beispiel, dass sich seine Augen in meiner Reichweite befinden und meine Daumen sich dazu eignen sie einzudrücken, oder sein Hals nahe genug ist um zu versuchen ein Stück herauszubeißen. Auch wenn das nicht funktioniert, das könnte ein Ziel sein. Aber das wird nur funktionieren, wenn ich meine Hemmungen überwinde und realisiere, dass die Person, die mich attackiert, mir immenses Leid zufügen oder mich sogar umbringen will. Jegliche Hemmung Gewalt anzuwenden ist hier Fehl am Platz. Jetzt muss Wut und Überlebenswille übernehmen. Und wenn das heißt, die Augen mit aller Gewalt einzudrücken, dann muss das eben sein. Ich gebe zu, ohne Anlass und entspannt auf meinem Sofa sitzend schaudert es mich auch, aber wenn ich mir vorstelle, jemand greift mich an, und will mich missbrauchen für seine verabscheuungswürdigen Zwecke, dann steigt in mir die Wut auf, und ich hoffe inständig, dass erstens, so ein Fall niemals eintritt und zweitens, dass wenn er doch eintritt, diese Wut sich in eine gelungene Selbstverteidigung entlädt. Seine Augen, seine Gesundheit, sein Leben sind zweitrangig. Es geht nur darum, dass ich überlebe und jedwede Hemmungen stehen diesem Ziel im Weg. Denn eines ist klar: Er ist gewaltbereit, sonst hätte er mich nicht angegriffen. Und ich muss es auch sein, sonst werde ich keine Chance haben, ihm zu entkommen.

Lass dich unter keinen Umständen zu einer „secondary location” bringen

Wenn jemand versucht dich zu verschleppen, dich zum Beispiel hochnimmt, an den Haaren zerrt, mitschleift, musst du alles dafür tun, dass er nicht erfolgreich ist. Er will dich vielleicht in ein Auto oder einen abgelegenen, schlecht einsehbaren Ort bekommen um dich zu vergewaltigen. Sicher ist, dass nichts Gutes dort geschehen wird. Ein paar Dinge, die in diesem Fall geraten werden, möchte ich hier kurz aufzählen:

Setze dich auf den Boden. Helfe ihm nicht bei seinem Vorhaben, indem du deine Beine für ihn arbeiten lässt. Wenn er dich tragen muss, kommt er immerhin nicht so schnell voran, wie er es gerne hätte.

Verhalte dich wie ein Kleinkind. Meine Kinder sind tatsächlich erstaunlich gut darin sich meinem Griff zu entziehen. Ich nenne es „zu Pudding werden“. Wenn ich versuche sie hochzunehmen, sie das aber nicht wollen, nehmen sie zum Beispiel ihre Arme nach oben, was es viel schwieriger macht, sie anzuheben. Sie scheinen zudem jegliche Körperspannung zu verlieren und sich wie Pudding aus meinem Griff herauszuwriggeln. Auch vom Tanzen weiß ich, dass es sehr leicht ist eine Person, die Körperspannung besitzt, zu halten, aber eine Person, der diese fehlt, wird direkt viel schwerer.

Ins Gesicht treten. Alles ist erlaubt. Kratzen, Beißen, und auch brutalere Gegenmaßnahmen, denn wenn dich jemand mitschleppen will, wird das alles andere als harmlos sein.

Die fünf Vitalpunkte

Dies ist einer der allerwichtigsten Abschnitte, denn hier geht es um die Stellen am menschlichen Körper, die Ziele einer Selbstverteidigung sein sollten. Nicht weil sie schmerzhaft sind – denn es gibt Menschen, die Schmerzen prima aushalten und weiter attackieren können – sondern weil sie, wenn richtig getroffen, den Angreifer unfähig machen, seinen Angriff fortzusetzen. (Beachte, dass diese Punkte auch deine eigenen Schwachpunkte sind). Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass diese Ziele nicht angegriffen werden, wenn es sich um eine unschöne aber relativ harmlose Auseinandersetzung handelt, sondern nur, wenn es wirklich ernst ist und es darum geht den Angreifer unschädlich zu machen, damit er einen nicht ernsthaft verletzen kann.

Augen: Wenn der Angreifer mich nicht sehen kann, weil ich ihm die Augen eingedrückt habe, kann er mich sehr wahrscheinlich auch nicht weiter verletzten. Alle Finger eignen sich dazu die Augen zu quetschen und solange ein Arm frei ist kann man die Augen des Gegners aus verschiedenen Positionen oft noch erreichen.

Ohren: Schläge auf die Ohren sind wirkungsvoll, weil sie das Gleichgewicht verstören. Zum Beispiel kann man mit beiden, leicht gewölbten Händen gleichzeitig kraftvoll auf die Ohren schlagen.

Hals: Wird der Kehlkopf eingedrückt (zB. Faust, Handkante) kann die Person sterben. Schläge auf den seitlichen Hals können zum K.O. führen. Auch der Nacken gehört zum vitalen Bereich und sollte als Ziel genutzt werden.

Schambein: Statt auf die Genitalien zu zielen, wo ein Schlag oder Tritt sicherlich sehr schmerzhaft sein würde, sollte man auf das Schambein zielen, also auf den Punkt, wo das Becken vorne zusammenläuft. Schon ein relativ leichter Schlag kann es brechen und so dazu führen, dass der Angreifer außerstande ist, zu gehen.

Knie: Auch hier geht es nicht in erster Linie darum, Schmerzen zuzufügen, sondern den Angreifer außer Gefecht zu setzen. Durchgestreckte Knie kann man von vorne eintreten, geknickte besser von der Seite oder von hinten. Ein Angreifer, der sich nicht auf zwei Beinen halten kann, ist kaum noch eine Gefahr.

Meine Schläge gegen den Oberkörper, selbst wenn ich den Solar Plexus treffen sollte, können eventuell nicht effektiv genug sein. Statt also meine Energie und womöglich entscheidende Zeit darauf zu verschwenden, sollte ich prüfen, ob Vitalpunkte erreichbar sind. Viele denken, sie müssten „einfach in die Genitalien treten“, aber so ein Tritt muss einem erst einmal glücken, denn der Angreifer wird nicht still stehen und wenn du zu langsam trittst womöglich dein Bein wegziehen und dich zu Fall bringen. Und selbst wenn der Tritt oder Schlag glückt, ist der Schmerz vielleicht spürbar, aber eben nicht schlimm genug, um den Angriff abzuwehren.

Gegner unfähig machen

Wenn ich es tatsächlich schaffen sollte, den Gegner zu Boden zu werfen oder von ihm los zu kommen, werde ich vielleicht instinktiv wegrennen wollen. Allerdings besteht dann die Gefahr, dass der Angreifer sich einfach wieder aufrappelt, mich verfolgt, mich einholt und mich noch einmal angreift, und beim zweiten Mal habe ich vielleicht weniger Glück. Statt also einfach wegzurennen sollte ich erwägen ihn insofern unschädlich zu machen, dass er mir eben nicht hinterherrennen kann. Ein Trainer riet mir dem Angreifer in einem solchen Fall die Beine zu brechen und zeigte mir auch, wie ich das schaffen könnte. Aber ich bezweifle, dass ich mich trauen werde dem Täter wieder so nahe zu kommen, wenn ich es erst geschafft habe eine gewisse Distanz zwischen uns zu bringen. Ich würde ihm wohl eher erst kräftig gegen den Kopf treten, und wenn er dann wirklich benommen ist, ihm dann vielleicht noch die Beine brechen. Und ja, bei der Selbstverteidigung geht es immer auch um Verhältnismäßigkeit, aber ich rede hier von einem Kampf auf Leben und Tod (meinem Tod) und meinem Versuch meinem Angreifer keine zweite Chance zu gewähren mich umzubringen.

Nicht eine Technik für alle

Die Techniken, die ich für sinnvoll und durchführbar halte, sind für dich vielleicht komplett nutzlos. Oder du kannst Techniken anwenden, die für mich nicht in Frage kommen, weil sich unser Körperbau, unsere Kraft und/oder unsere Geübtheit unterscheidet. Es wäre lächerlich zu denken, dass eine schlanke, 1.50m große Frau einem großen Mann so fest auf den Fuß treten kann, dass er sie einfach los lässt. Viel eher hebt er sie einfach hoch und vorbei ist es mit dem Treten auf den Fuß. Es gibt viele gute Techniken, um sich aus einem Griff zu befreien, aber gegen einen viel größeren und stärkeren Gegner können sie wirkungslos bleiben. Bei allen Techniken sollte also wirklich geprüft werden, ob die Person, die diese erlernt, sie auch wirklich anwenden kann, oder ob andere Techniken besser geeignet wären. Eine Person mit langen Beinen kann vielleicht besser einen größeren Abstand zum Angreifer bewahren und die Distanz nur für die Dauer eines Gegenschlags kurzzeitig verringern. Aber jemand, der kleiner gebaut ist, wird so vielleicht viel mehr Schläge kassieren, und für ihn oder sie wäre es sinnvoller näher heranzugehen um dem größeren Gegner den Vorteil zu nehmen. Es gibt auch Techniken, die kleinere Menschen sehr wirkungsvoll gegen größere Menschen anwenden können, klein zu sein bedeutet nicht, wehrlos zu sein. Aber dann müssen vor allem diese Techniken auch geübt werden, und nicht Zeit damit verschwendet werden Techniken zu erlernen, die einfach nicht funktionieren. Umso wichtiger ist es für mich und für dich herauszufinden, was denn wohl funktioniert.

Mit Partner*in oder Freund*in üben

He: „You wanted to beat me up, right?“

Me: „No, I wanted to break your arms.“

Die Unterhaltung mit meinem Partner kurz bevor wir eine Technik überprüft haben, bei der ich auf dem Boden liege, er zwischen meinen Beinen sitzt und sich über mich beugt und so tut, als würge er mich. Ich legte ihm dann meine Füße rechts und links auf seine Schultern, drückte die Knie nach innen gegen seine Arme, hielt seine Hände fest und bewegte mein Becken gaaaaanz vorsichtig und langsam nach oben. Bei einem echten Angriff sollte die Bewegung natürlich so schnell und wuchtig wie möglich vollführt werden, aber beim Üben soll der Partner ja unverletzt bleiben! In dem Video hieß es, so könnte man dem Angreifer die Arme brechen. Unter der Voraussetzung, dass ich die Technik dann auch richtig ausführe, könnte das klappen. Ich müsste diese Technik allerdings wirklich oft üben, damit ich sie schnell und richtig hinbekomme, denn wenn der Angreifer mich würgt stehen mir nur wenige Sekunden, wenn überhaupt, zur Verfügung. Eine andere Technik, den Gegner seitlich von mir runter zu werfen, wenn dieser auf mir drauf sitzt, hat nicht funktioniert. Allerdings konnte ich meinen Partner relativ leicht über das Anheben meines Beckens vornüber fallen lassen, ohne dass er viel dagegen ausrichten konnte. Jetzt muss ich noch üben schnell wieder hoch zu kommen, und mir überlegen, wie ich an dem Punkt weitermachen muss, um ihn außer Gefecht zu setzen, aber immerhin klappt das schon einmal. Das Üben mit dem eigenen Partner, aber auch Übungspartner verschiedener Gewichtsklassen und Größen in einem Kurs, hilft die Techniken auszusortieren, die für die eigene Statur und Muskelmasse nicht brauchbar und nur in Theorie anwendbar sind und stattdessen die Techniken für sich selbst zu finden, die auch in der Realität zum Ziel führen. Und falls man glaubt sich schon irgendwie befreien zu können, wird man so ganz schnell auf den Boden der Tatsachen zurück geholt. Seine eigenen Fähigkeiten zu überschätzen ist in der Selbstverteidigung nur schädlich und oft wird einem beim Üben ganz schnell klar, dass man vielleicht doch nicht so stark, schnell oder geschickt ist wie man geglaubt hatte.

Der Anführer einer Gang ist nicht dein Hauptziel

Manchmal heißt es, man soll sich den Anführer einer Gang vornehmen und glaubt, wenn man es schafft diesen auszuschalten oder zu verletzen, dass die anderen dann von einem ablassen. Aber wenn der Anführer hinter den anderen steht, musst du erst zu ihm hinkommen, und wenn du das versuchst riskierst du von den anderen umzingelt zu werden. Sinnvoller ist es bei mehreren Angreifern zu überlegen in welcher Reihenfolge du mit wem kämpfen musst, sodass du, wenn möglich, einen nach dem anderen als Gegner bekämpfen musst und nicht alle gleichzeitig.

Der Kampf muss blitzschnell beendet sein

Beim Jiu Jitsu habe ich nette Hebel erlernt, um meinen Angreifer am Boden festzunageln. Beim Kickboxen habe ich gelernt, immer wieder auf das Bein zu treten, damit es irgendwann nachgibt. Auch bei den anderen Kampfsportarten wurde immer wieder gezeigt, wie man den Gegner „kontrollieren“ könne. Wenn ich mich jedoch nicht in einem Wettkampf befinde, sondern in einem echten Angriff, habe ich keine Zeit für so etwas, denn vielleicht ist der Angreifer nicht alleine, und während ich mit ihm am Boden rumliege und ihn schön festhalte, kommt ein anderer und tritt mir gegen den Kopf. Oder während ich immer wieder gegen das Bein meines Angreifers trete, tritt ein anderer mir von hinten die Knie kaputt. Ich muss damit rechnen mehr als einen Angreifer zu haben und kann mir keine Zeit nehmen, meinen Gegner zu „kontrollieren“. Ich muss ihn so schnell wie möglich außer Gefecht setzen, damit ich mich, wenn nötig, dem nächsten Angreifer zuwenden kann.

Hände frei

Sollte es zu einem Kampf kommen, lass sofort alles fallen (es sei denn es eignet sich als Waffe). Einkäufe oder andere unwichtige Dinge, hindern dich dabei, deine Hände zur Abwehr einzusetzen. Denke daran, das Ziel deiner Finger sind jetzt die Augen deines Angreifers, und müssen schnellstmöglich einsatzbereit sein. Und wenn du tatsächlich wegrennen kannst, solltest du jeglichen Ballast abwerfen.

Angriff mit einem Messer

Wenn der Angreifer mit einem Messer bewaffnet ist, dann wird oft gelehrt, dass es nun heißt dem Angreifer das Messer zu entwenden. Der Fokus wird auf das Messer gerichtet, weil es einen verletzen kann. Allerdings muss man sich vor Augen führen, dass es der Angreifer ist, der das Messer führt. Die Wahrscheinlichkeit, dass man einem geübten Messerangreifer das Messer entwenden kann ist relativ gering, aber die Schwachstellen der Vitalpunkte bestehen auch für ihn. Statt sich also auf das Messer zu konzentrieren, sollte man versuchen, den Angreifer, der das Messer hält, auszuschalten. Er ist bewaffnet, aber du bist es auch, denn deine Hände sind genauso Waffen, wenn sie zielgerichtet eingesetzt werden.

Kleidung

Die beste Technik wird mir oder dir nichts bringen, wenn wir Kleidung tragen, die eine Durchführung unmöglich macht. Ich denke da zum Beispiel an enge Hosen oder enge Röcke und hohe Hacken. Wenn ich früher Kleidung trug, die mich in meiner Bewegungsfreiheit einschränkte, kam mir das immer blöd vor. Die Vorstellung jemand könnte mich angreifen und trotz meiner Kenntnis und meinem Willen mich zu verteidigen, dennoch leichtes Spiel mit mir haben, nur weil ich „schicke“ Kleidung trug, war wirklich absurd. Und ja, ich erwarte keinen Angriff, aber sollte doch einmal einer erfolgen, möchte ich wirklich nicht, dass ein enger Rock meine Gegenwehr vereitelt, vor allem wenn es auch (relativ) schicke aber praktische Alternativen gibt.

Die Wand

Es stimmt, wenn man die Wand im Rücken hat, kann von dort kein weiterer Angreifer kommen, aber, man selbst kann auch nicht weiter zurück- bzw. ausweichen. Die Wand kann je nach Situation behilflich oder hinderlich sein.

Was tun nach dem Kampf:

Es gibt drei Dinge, die du unbedingt nach einem Kampf tun solltest. Und ich habe sie leider in keinem Kampfsporttraining erwähnt gehört, dabei erscheinen sie so einleuchtend und wichtig:

1. Überprüfe deine Umgebung auf weitere Angreifer. Wie schon oben erwähnt kann es gut sein, dass nach dem Kampf vor dem Kampf ist und man sicher sein muss, dass wirklich keine Gefahr mehr droht.

2. Checke dich selbst auf Verletzungen. Ein Messerstich kann sich wie ein Schlag anfühlen, und während man glaubt nur einen heftigen Schlag kassiert zu haben, kann man dabei sein, innerlich zu verbluten. Ganz wichtig ist es also sich sorgfältig auf Verletzungen zu untersuchen.

3. Rufe die Polizei und den Krankenwagen. Ich denke das erklärt sich von selbst, sollte aber auf keinen Fall vergessen werden. Selbst wenn du den Krankenwagen nicht brauchen solltest, vielleicht braucht ihn dein Angreifer, und selbst wenn es dir herzlich egal sein kann, was aus ihm wird, kann es vielleicht rechtliche Konsequenzen haben, wenn du es nicht tust. Außerdem ist es wahrscheinlich nicht verkehrt dich selbst einmal gut durchchecken zu lassen und Verletzungen dokumentieren zu lassen um später vor Gericht Beweise vorlegen zu können.

Mentale Vorbereitung

Die besten Selbstverteidigungtechniken bringen mir überhaupt nichts, wenn ich im Falle eines Angriffs erstarre und vor Schreck alles vergesse, was ich gelernt habe. Realistische Angriffe zu üben wäre wahrscheinlich am wirkungsvollsten, damit man lernt schnellstmöglich die Panik zu überwinden, aber das ist nicht immer möglich. Deswegen muss mentale Vorbereitung Teil der Selbstverteidigung werden. Das liefert keine Garantie dafür, dass man sich auch wirklich wehren kann, aber es erhöht zumindest die Wahrscheinlichkeit.

Was mache ich, wenn…?

… mir jemand so nahe kommt, dass ich Unbehagen spüre? – Ich sage ihm laut und deutlich, dass er auf Abstand gehen soll (denn meine Grenze ist überschritten, was durch das Unbehagen deutlich signalisiert wird).

… mich jemand zB. an den Armen festhält? – Dies ist eine bedrohliche Situation und ich wende erlernte Techniken an, um mich zu befreien. Hier folgt die mentale oder reale Wiederholung der möglichen Techniken.

… jemand meinen Hals umfasst oder seinen Arm um ihn legt? Dies ist eine lebensbedrohliche Situation und und mein Ziel muss sein ihn mit allen Mitteln und so schnell wie möglich außer Gefecht zu setzen, damit er mir keinen Schaden zufügen kann. Ob er mir nach dem Leben trachtet oder mich nur bedrohen will, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass es in seiner Macht steht, mich binnen weniger Sekunden auszuschalten und ich nicht zögern darf, mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen. Jetzt müssen Wut und Lebenswille über meine Hemmungen, jemandem weh zu tun, siegen und ich muss alles tun damit der Angreifer nicht zudrücken kann.

… mich jemand verfolgt (oder ich mir nicht sicher bin ob er es tut)? – Ich versuche an einen öffentlichen Ort zu gelangen, zB. einem Geschäft, oder mich einer Gruppe von Menschen anzuschließen und sie auf meine Situation aufmerksam zu machen. Dann rufe ich die Polizei.

… mich jemand angreift um mich zu vergewaltigen? Auch dieser Angriff ist als lebensbedrohlich zu werten, denn der Angreifer ist eindeutig gewaltbereit und ich kann nicht wissen, ob er es bei der Vergewaltigung belässt, oder mich davor, währenddessen oder danach beabsichtigt umzubringen. Auch in diesem Fall geht es ums nackte Überleben und ich muss so brutal wie möglich zurückschlagen um mein Leben zu retten.

… mir eine Situation, ein Mensch oder eine Gruppe Menschen nicht geheuer ist? – Ich versuche ihr/ihm/ihnen auszuweichen und höre auf meinen creep alarm.

… mich jemand von hinten umklammert, mich an den Haaren zerrt, sich auf mich drauf setzt, etc.? – Hier folgt eine mentale oder reale Wiederholung der erlernten Techniken. Zum Beispiel, wenn mich jemand an den Haaren zerrt, versuche ich nicht mich vom Gegner wegzubewegen, denn er wird nicht einfach loslassen, sondern ich gehe auf ihn zu und drücke ihm auf die Augen (nur so fest, dass er mich loslässt).

Außerdem wiederhole ich:

– Was sind die Vitalpunkte? Wie treffe ich sie am besten?

– Wie kann ich eine bedrohliche Situation möglicherweise deeskalieren kann, sodass es gar nicht zum Angriff kommt. Wenn jemand nur droht kann man vielleicht durch sein Verhalten dafür sorgen, dass der potentielle Angreifer von seinem Angriff absieht und sich wieder beruhigt.

– Was tue ich, wenn ich einen Angriff oder eine bedrohliche Situation beobachte? – Ich werfe mich nicht dazwischen, sondern rufe die Polizei. Lieber einmal zu oft angerufen, als einmal zu wenig oder zu spät.

– Dazu gehört auch sich Gedanken darüber zu machen, was die eigenen Grenzen sind, zum Beispiel, welcher Abstand einem angenehm bzw. unangenehm ist, oder welche Art von Berührung, und durch wen als in Ordnung gilt und welche nicht. Das kann einem helfen Grenzüberschreitungen schneller wahrzunehmen und sich gegen sie zur Wehr zu setzen.

Als junge Erwachsene saß ich einmal in der Bibliothek mit zwei Männern im Gespräch, als einer plötzlich seine Hand auf mein Knie legte. Diese Hand hatte dort überhaupt nichts zu suchen! Aber in dem Moment selbst war ich so überrascht, dass ich nur feststellte, dass es mir unangenehm war, es allerdings auch nicht weh tat, und ich wartete geduldig, bis er sie wieder weg nahm. Das würde mir heute nicht mehr passieren. Heute würde ich ganz laut sagen: „Nehmen Sie sofort ihre Hand von meinem Knie“ (Ich hatte überlegt ein „…oder ich breche Sie ihnen“ dranzuhängen, aber das wäre eine leere Drohung, da ich das natürlich nicht tun würde. Würde er sich allerdings weigern, könnte ich mir vorstellen einen Finger zu packen und schnell und schmerzhaft umzuknicken, schließlich habe ich ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass seine Hand nichts auf meinem Knie zu suchen hat.) Zumindest passiert das so in meinem Kopf. Aber da ich bereits bei dem Gedanken dieser Grenzüberschreitung so wütend werde, kann ich mir immerhin gut vorstellen, dass ich in der echten Situation nicht lange überrascht wäre, die Grenzüberschreitung als solche wahrnehmen würde, und schnell wütend genug sein würde um mich zu wehren. Und wie immer hoffe ich, dass ich das nie herausfinden muss.

Hundeattacke

Und weil es der Anlass war, mich überhaupt erst wieder mit dem Thema Selbstverteidigung zu befassen, und weil du dich vielleicht seit dem Beginn des Texts fragst, wie man sich denn nun gegen einen Hundeangriff wehrt, folgen hier die Informationen, die ich bei meiner Recherche zum Thema erhalten habe:

Nicht wegrennen: Wenn du wegrennst weckst du den Jagdinstinkt des Hundes und wenn er zuvor noch überlegt hat dich anzugreifen, wird er dich jetzt ganz bestimmt beißen wollen. Und jene Hunde, die bei einem Angriff zur Gefahr werden, also nicht die kleinen „Ratten“, werden dich locker einholen und dann erst so richtig scharf sein.

Hand zur Faust: Sonst kann sich der Hund allzu leicht in die Finger verbeißen bzw. sie abbeißen. Zudem lässt sich eine Faust besser befreien als eine geöffnete Hand.

Ruhe bewahren: Auch wenn es beinahe unmöglich erscheint, muss man doch versuchen Ruhe zu bewahren. Wenn man ruhig bleibt und dem Hund zeigt, dass von einem keine Gefahr ausgeht, kann ein Angriff vielleicht abgewendet werden.

Deeskalieren: Eventuell glückt der Versuch den bevorstehenden Angriff dadurch abzuwenden, in dem man etwas wirft und der Hund zum Spiel angeregt wird. Das kann ein Gegenstand sein, den man in der Hand hält, zb eine Trinkflasche, oder ein imaginärer Stock, den man vom Boden aufhebt (Vorsicht, nicht zu tief gehen, wir wollen dem Hund nicht zu nahe kommen) und fort wirft.

Jacke um den Arm: Ich weiß nicht, ob dies wirklich etwas bringt. In einem Video bei dem mit spezieller Kleidung trainiert wurde und ein Hundeangriff erfolgte, sagten die Teilnehmer es hätte sich angefühlt, als wären die Zähne des Hundes bis tief ins Fleisch eingedrungen. Ich bin mir also nicht so sicher, ob eine einfache Jacke viel Schutz bietet, aber wenn es die Zeit erlaubt ist es sicherlich einen Versuch wert.

Arm als Angriffsfläche bieten: Besser der Hund verbeißt sich in dem Arm als im Hals oder dem Gesicht, oder irgendeinem Körperteil eines Kindes. Wenn der Hund einen Arm zu packen bekommen hat, hat man immerhin noch beide Beine und den anderen Arm um sich zu wehren.

Mit aller Gewalt zurückschlagen: Wenn der Hund wirklich angreift heißt es auch hier, dass man alle Hemmungen über Bord werfen muss. Jetzt zählt es dem Tier so viel Schmerz zuzufügen wie nur irgend möglich. Es eignen sich Schläge auf die Schnauze, auf die Augen und kraftvolle Tritte gegen den Rumpf. Immer und immer wieder, bis der Hund am Boden liegt oder flieht. Nur Gewalt wird ihn jetzt noch davon überzeugen von seinem vermeintlichen Opfer abzulassen.

Wenn das Kind das Opfer ist:

Vor dem Angriff sollte man versuchen sich zwischen den Hund und das Kind zu begeben. Es ist schließlich immer besser, der Hund beißt sich in einen Erwachsenen als in ein Kind.

Ganz wichtig: Hat sich der Hund in das Kind verbissen, darf nicht an dem Kind gezogen werden. Dann wird der Hund anfangen seine Beute zu schütteln und das kann für das Kind noch viel gefährlicher werden als der Biss selbst.

Wenn ich mit beiden Kindern unterwegs bin muss ich – entgegen meinem Instinkt meine Kinder hoch zu nehmen- mich zwischen Hund und Kinder stellen und dafür sorgen, dass meine Hände frei sind und mein Körper zum Schild für meine Kinder wird, statt dass sie mit wackelnden Beinen vor mir hängen. Ich darf auch nicht versuchen mit den Kindern weg zu laufen, sondern muss stehen bleiben und den Hund ganz genau im Blick behalten. Und dann die Punkte wie oben beschrieben beachten. Wenn möglich rufe ich Umstehende zu Hilfe, damit sie mir dabei helfen meine Kinder zu schützen. Wenn ich einen Angriff auf ein Kind beobachte werde ich mit aller Gewalt auf den Hund eintreten, bis er von dem Kind ablässt.

Quellen

Ich verlinke auf meiner Webseite nicht auf YouTube Videos, aber ich nenne hier ein paar Quellen, die du dann selbst einmal suchen kannst. Einige Videos von Thomas Klüh haben mich angesprochen, weil er Dinge angesprochen hat, die mir neu waren oder einer Auffrischung bedurften. Dann habe ich noch Videos von Active Self Protection angesehen, in dem echte Videos von Überwachungskameras gezeigt wurden, in den Menschen angegriffen wurden. Dazu gab es eine Analyse der sinnvollen oder weniger sinnvollen Reaktionen, was teilweise auch sehr aufschlussreich war. Dann gab es hier und da noch interessante Videos, die interessante Techniken zeigten oder Impulse gaben, aber die Namen sind mir entfallen. Dann gab es noch eine ganze Reihe von Videos zur Selbstverteidigung, die größtenteils jedoch Zeitverschwendung waren, die wirst du ohne Anstrengung auch finden, ob du willst oder nicht 😉 Aber hey, vielleicht waren die vorgestellten Techniken auch nur für mich nichts, und für dich sind sie doch nützlich.

Zum Schluss

Ich hoffe meine Übersicht hat sich für dich als informativ erwiesen und dich vielleicht motiviert selbst einmal in die Welt der Selbstverteidigung einzutauchen. Wir können uns nicht sicher sein, niemals angegriffen zu werden und sollte es passieren haben wir eine bessere Chance, wenn wir uns vorab mit dem Thema Selbstverteidigung befasst haben. Eine Kampfkunst zu erlernen ist in vieler Hinsicht sinnvoll (Selbstvertrauen stärken und so womöglich weniger schnell als Opfer auserkoren zu werden, Ganzkörpertraining, eigene Grenzen erkennen, Kämpfe im sicheren Kontext erproben), aber nicht ausreichend, da jede Kampfkunst Schwächen hat, die ausgelotet werden können, oder keine Rücksicht auf die physischen Voraussetzungen der Übenden genommen wird, oder nicht genügend darauf hinarbeitet, die Hemmung andere zu verletzen zu überwinden und Überlebenswillen zu schärfen. Zumindest danach zu urteilen, was ich bisher gesehen und erlebt habe. Aber vielleicht werde ich ja doch noch fündig. Wenn du einen Tipp hast, lass es mich wissen!

Ich hoffe außerdem, dass weder du noch ich je (wieder) in eine bedrohliche Situation kommen, die es erforderlich macht, sich zu verteidigen, aber sollte es doch leider geschehen, dass wir so gut wie möglich vorbereitet sind und der Angreifer mehr Schaden nimmt als wir selbst.

Deine RE

Sich vergleichen

Da wir in einer Gesellschaft leben, in der man sehr leicht den Eindruck bekommen kann, dass man erst jemand ist, wenn man etwas (besonders gut) kann, oder (besonders viel) hat, ist es nicht verwunderlich, dass wir mitunter versuchen durch den Vergleich mit anderen unseren Selbstwert abzuleiten, immerzu hoffend möglichst gut abzuschneiden, und enttäuscht und unzufrieden mit uns selbst, wenn wir es nicht tun. Zudem wird oft suggeriert, dass man erst besonders schön, besonders intelligent, besonders wohlhabend, besonders diszipliniert, also auf irgendeine Weise besonders sein muss, um glücklich sein zu können. Und solange wir nicht einem Ideal entsprechen, oder besser als andere abschneiden, können bzw. sollten wir nicht zufrieden sein.

Ich halte dagegen, dass die allermeisten Vergleiche weder fair noch zielführend sind. Und wenn Vergleiche nicht in einem praktischen Nutzen resultieren, der uns weiterhilft, dann sind sie sinnlos und wir wären gut beraten, uns das Vergleichen wieder abzutrainieren.

Warum kann ich nicht so sein wie Person X?

Wenn alle Faktoren zwischen Person X und mir gleich wären, also zB. unsere Gene, Erziehung, Erfahrungen, Prioritäten, Charakter, Bedürfnisse, Interessen etc., dann wäre ich genauso wie Person X. Wir haben aber nun einmal einen unterschiedlichen Genmix, eine andere Erziehung genossen, unterschiedliche Interessen, andere Erfahrungen gemacht, und unterschiedliche Prioritäten, etc.

Bei manchen Vergleichen ist das sehr einfach zu akzeptieren: Warum bin ich nicht so klein wie Person X? Wenn ihre Eltern klein sind und meine Eltern groß, liegt die Antwort auf die Warum-Frage auf der Hand. Lautet die Frage jedoch: Warum bin ich nicht so selbstsicher/entspannt/wissend/zielstrebig/schön wie Person X? Dann kann die Antwort auf diese Frage so vielfältig und komplex sein, dass man die Gründe mitunter nicht genau ausmachen kann. Und statt die zugrundeliegenden Faktoren zu ergründen, schlussfolgert man, dass man nicht so gut ist wie die andere Person. Vermeintlich nicht so gut zu sein wie jemand anderes suggeriert uns, dass mit uns etwas nicht stimmt. Und weil wir glauben, dass wir eigentlich wie die andere Person sein könnten, es aber aufgrund eines persönlichen Mangels (Faulheit, Dummheit, Unentschlossenheit) nicht schaffen besser zu werden, fühlen wir uns schlecht. Wir werden uns zudem auch weiterhin schlecht fühlen, weil wir durch den Vergleich nichts Nützliches dazu gelernt haben. Aber es geht auch anders, dazu ein paar Beispiele:

Schreiben

Ich brauche um einen Artikel zu schreiben eine (gefühlte) EWIGKEIT! Schreiben, Umschreiben, Schreiben, Umschreiben, Löschen, noch einmal von vorne. Ah, das klingt nicht gut. Ah, das ist nicht logisch. Was will ich eigentlich sagen? Schreiben, Umschreiben. Das geht doch bestimmt noch besser, oder?… Und in meinem Kopf bildet sich dabei die Vorstellung, dass es da draußen Menschen gibt, die einen Artikel, so wie ich ihn schreiben möchte, in einem Bruchteil der Zeit niederschreiben könnten. Das würde ich auch gerne können. Sagen wir diese Person gibt es wirklich (gibt es wahrscheinlich sogar) und sie existierte nicht nur in meiner Vorstellung. Was bringt mir der Vergleich, wenn ich nur schlussfolgere, dass ich sehr langsam voran komme und dass das wahrscheinlich damit zusammenhängt, dass ich im Vergleich zu der anderen Person gewisse Mängel habe? Dass ich wohl nicht scharfsinnig, oder fokussiert, oder strukturiert genug bin. Erst einmal nichts, außer dass ich mich ein bisschen blöd fühle. Ich werde dadurch nicht schneller, oder scharfsinniger, oder fokussierter, denn ich weiß ja immer noch nicht, wie ich arbeiten muss, um das alles zu beschleunigen. Statt mir jedoch einzureden, dass ich blöd bin, sollte ich den Fokus darauf legen jemanden zu finden, der effizienter schreibt als ich und von ihr oder ihm zu lernen. Vielleicht hat die Person Tipps und Tricks, die ich übernehmen kann und die mir meine Arbeit erleichtern. Nur dann hat der Vergleich etwas Sinnvolles hervorgebracht.

Schönheit

Es gibt nicht das Schönheitsideal. Schönheitsideale ändern sich im Lauf der Zeit, unterscheidet sich von Kultur zu Kultur, und sogar von Person zu Person. Mal sind große Brüste toll, dann wieder kleine, mal gilt eine hohe Stirn als besonders schön, dann muss sie wieder kaschiert werden, mal soll Frau Kurven haben, dann wieder ultra-dünn sein. Auch das Schönheitsideal für den Mann unterliegt Schwankungen, aber groß und muskulös ist schon eine Weile angesagt. Bei jedem Ideal gibt es jedoch nur Wenige, die von Natur aus diesem Ideal entsprechen, Männer wie Frauen, und viele, denen nun eingeredet wird, dass sie falsch seien und erst glücklich sein könnten, wenn sie dem Ideal entsprechen. Wir wissen zwar inzwischen, dass nahezu alle Fotos, die wir zB. in der Werbung sehen, gefotoshopt sind und die abgebildeten Menschen so nicht einmal existieren, und dass besonders schöne Menschen nicht unbedingt besonders glücklich sind, aber es ist manchmal dennoch gar nicht so einfach sich von all dem zu distanzieren.

Wenn ich in den Spiegel schaue und mich mit dem Schönheitsideal vergleiche, versage ich auf ganzer Linie: zu dick, zu wenig Oberweite, zu große Poren, zu dünnes Haar, Zähne nicht weiß genug, Haut nicht glatt genug, Popo nicht straff genug, zu viele Falten, zu viel Haar dort, wo es nicht sein soll, zu wenige Muskeln, Lippen zu blass, etliche Narben, Wimpernschlag nicht dramatisch genug, usw. usf. Puuuh! Das Zusammenspiel meiner Gene und meiner Lebensweise scheint nicht sehr förderlich, und ich könnte davon ziemliche schlechte Laune bekommen. Zum Glück muss ich mich nicht in mein Schicksal fügen, denn es gibt Wege um mich dem Ideal näher zu bringen. Was müsste ich also tun? Weniger essen. Viel mehr Sport treiben. Künstliche Haare für mehr Volumen, Laserbehandelung um andere Haare zu entfernen, Make-up für einen ebenmäßigen Teint, Rouge für Frische im Gesicht, falsche Wimpern. Cremes gegen die Falten. Brustvergrößerung und eventuell Fettabsaugen an den Hüften, Zähne aufhellen, falsche Fingernägel, und wahrscheinlich Einiges mehr, was mir erst im Laufe der Zeit auffällt.

Statt mich nur mit dem Ideal zu vergleichen und mich schlecht zu fühlen, habe ich einen gehbaren Weg gefunden, der mich dem Ideal näherbringen kann. Hurra! Bevor ich jetzt aber loslege, spule ich einmal vor und überlege mir, was wäre, wenn ich es tatsächlich täte:

Bei jedem Bissen würde ich an meine Hüften denken, statt den Bissen zu genießen. Sport würde ich betreiben, um Kalorien zu verbrennen und Muskeln aufzubauen, statt mich an der Bewegung an sich zu erfreuen. Operationen wären schmerzhaft und kostspielig. Schminken und abschminken zeitraubend. Mein Fokus, statt auf meinen Interessen, meiner Familie und dem Spaß am Leben zu liegen, würde sich stark auf mein Spiegelbild verlagern.

Und dann, wenn ich endlich besonders schön wäre, was wäre dann? Menschen würden sich sicher positiv äußern. Abzunehmen gilt als Leistung, ob man nun übergewichtig war oder nicht. Sich zu Schminken wird zudem oft mit „etwas aus sich machen“ gleichgesetzt. Doch solange ich meinen Selbstwert von der Anerkennung anderer abhängig mache, wird mein Glück genauso abhängig von ihr sein. Und wenn andere versäumen mir genug Beachtung, Bestätigung und Anerkennung zuteil werden lassen, werde ich mich schlecht fühlen, egal wie „hübsch“ ich dann bin.

Wenn ich mir das alles so durch den Kopf gehen lasse, stelle ich drei Dinge fest: Erstens, ich möchte meinen Selbstwert gar nicht darüber definieren, wie schön ich in den Augen anderer Menschen bin. Zweitens, ich möchte meinen Fokus nicht auf mein Aussehen verlagern. Und drittens, ich bin nicht bereit all das zu tun, was nötig wäre, um dem Ideal zu entsprechen.

Wie sinnvoll ist es dann für mich, mich mit einem Schönheitsideal zu vergleichen? Genau, wenig sinnvoll. Daher kann ich es auch einfach ganz sein lassen. Wenn ich nun in den Spiegel sehe, und einfach nur sehe, was jetzt schon ist, sehe ich Folgendes: Groß, schlank, gesund, schöne Hände, schöne Augenfarbe, stark, sympathisches Lächeln. All das kann ganz unabhängig von anderen geschehen. Ich kann mich betrachten, ohne mich zu vergleichen. Und wenn ich anfange wirklich mich zu sehen, statt das, war mir scheinbar noch fehlt (siehe Besserwisser zur richtigen Verwendung von scheinbar), dann bin ich auch jetzt schon zufrieden und kann mich auf die Dinge konzentrieren, die mir wirklich wichtig sind. Und wenn andere Menschen besonders schön sind, ihre Gene und ihre (hoffentlich gesunde) Lebensweise sie einfach besonders hübsch machen, dann kann ich mich an ihrer Schönheit erfreuen, so wie ich mich auch an besonders schönen Blumen oder besonders schönen Momenten erfreue, und kann einfach die Schönheit an sich wertschätzen, ohne das mein Selbstwert dabei Schaden nimmt, denn die andere Person ist nicht schöner als ich, sondern einfach schön.

Einsatzbereitschaft

Es gibt Menschen, die brennen für eine Sache. Sie können sich den ganzen Tag, über Wochen, Monate, sogar Jahre mit ein und demselben Thema befassen und es ödet sie immer noch nicht an. Sie haben einfach ihr Ding gefunden, das sie erfüllt. Das können zum Beispiel Sportlerinnen sein, oder Köchinnen (ja das Wort gibt es), Professorinnen, Vollzeit-Mütter, oder Gärtnerinnen. Das ist wirklich wunderbar! Es sei denn, man vergleicht sich mit jenen Menschen, und zieht die falschen Schlüsse, zum Beispiel, dass man faul, träge, undiszipliniert, unstruktruriert, etc. sei, und endlich mal ein bisschen mehr Einsatz zeigen sollte.

Während meines PhDs machte ich, statt bis spät abends zu arbeiten, wie es manche meiner Kolleginnen und Kollegen taten, um fünf Uhr Feierabend und fuhr im Sommer zum See um Schwimmen zu gehen. Über dem Buch oder den Artikel, den ich lesen sollte, schlief ich ein. In einer späteren Diskussion über den Stoff versuchte ich nicht durch Unwissenheit aufzufallen (ernster Blick, ab und zu ein nachdenkliches Nicken, ihr wisst schon 😀 ). Ich lernte Türkisch, ich unterhielt mich mit Kollegen über Geschichte und Politik, ich ging Spazieren und dachte über Gott und die Welt nach, ich machte alles Mögliche, aber ich saß nicht bis spät abends an meiner Doktorarbeit.

Wenn ich mich in einem solchen Kontext mit der ein oder anderen Kollegin vergleiche, könnte ich zu dem Schluss kommen, dass ich faul bin. Und das kann entweder dazu führen, dass ich mich einfach nur mies fühle und hart mit mir ins Gericht gehe (du Versager), oder ich kann selbst lange im Büro sitzen, bis spät abends arbeiten und morgens ganz früh wieder anfangen. ODER, ich gehe noch einmal zurück zu dem Vergleich, und überlege, ob der Vergleich überhaupt sinnvoll und fair ist:

Vielleicht arbeitet meine Kollegin ja auf eine Professorinnen-Stelle hin und muss dafür besonderen Einsatz zeigen um an ihr Ziel zu gelangen. Oder sie interessiert sich so sehr für ihr Thema, dass sie viel lieber weiter daran arbeitet, als irgendetwas anderes zu tun. Oder sie hat sich mit einer anderen Kollegin verglichen und glaubt, sie müsste es tun. Oder sie möchte nicht alleine zuhause herumsitzen und genießt noch die Zeit mit den anderen Kollegen. Oder sie hat zwischendurch so viele Pausen gemacht und sich ablenken lassen, dass sie jetzt noch ein paar Dinge nachholen muss um ihr Pensum zu schaffen. Und vielleicht ist das auch einfach ihre Art zu arbeiten und es stört sie nicht weiter. All das trifft nicht auf mich zu. Mir ist es sehr wichtig, neben der Arbeit Zeit für andere Dinge zu haben, zB fürs Schwimmen. Wenn ich mich zu lange mit einem Thema befasse ödet es mich an, ich kann also besser für Pausen sorgen um Energie zu tanken und wieder frisch an die Arbeit zu gehen. Rund um die Uhr zu arbeiten passt auch nicht in mein Lebenskonzept. Und da ich von allem ein bisschen wissen möchte, ist besonderer Einsatz für ein einziges Thema einfach meist nicht drin. Das hat also mit Undiszipliniertheit oder Faulheit nichts zu tun, sondern mit einem unterschiedlichen Fokus und unterschiedlichen Prioritäten. Auch hier ist ein Vergleich interessant, um seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen, und weniger dafür geeignet, einen Wert zu extrahieren.

Meinem Mann erging es vor einer Weile auch einmal so, als er seine Leistung auf der Arbeit mit der einiger seiner Kollegen und Kolleginnen verglich. Er hatte das Gefühl (es gab keine objektiven Kriterien), nicht so leistungsstark zu sein wie sie und er glaubte mitunter, etwas falsch zu machen und war unzufrieden mit sich selbst, weil er sich zu oft ablenken ließ oder mit den Gedanken abschweifte, statt konzentriert zu arbeiten. Eine meiner ersten Fragen war, ob die Kolleg*Innen junge Kinder hätten. Nein. Werden sie nachts mehrere Male aufgeweckt und teilweise lange wachgehalten? Kopfschütteln. Wann arbeiten sie denn an den Projekten? Zum Beispiel auch abends von zuhause aus, weil sie Single sind und vielleicht eh nichts anders zu tun haben? Teilweise Zustimmung. Möchtest du auch abends noch arbeiten? Kopfschütteln. Sind die Lebensumstände und Prioritäten vergleichbar, wodurch ein Vergleich vielleicht ein wenig fairer wäre? Nicht wirklich? Dann bringt ein Vergleich auch nichts! Zumindest was den Selbstwert betrifft. Wenn es darum geht, von anderen eine Technik, oder einen Trick zu lernen, um sich auf einem Gebiet zu verbessern, kann ein Vergleich sehr wohl nützlich sein. Darauf gehe ich weiter unten noch einmal ein. Aber anderweitige Vergleiche ohne konkreten Nutzen, sind nicht nur nutzlos sondern sogar schädlich, weil sie einfach nur die mentale Gesundheit angreifen.

Der schöne Schein

Der Vergleich mit anderen Personen oder Idealen geschieht oft so automatisch, dass wir selten innehalten und das Bild, mit dem wir uns vergleichen, erst einmal kritisch auf Richtigkeit überprüfen.

Mein Mann meinte vor einiger Zeit, dass „andere“ es hinkriegen würden, für Ordnung und Sauberkeit in ihren vier Wänden zu sorgen, wir aber oft im Chaos lebten. Woher weiß er denn, dass es bei anderen immer so ordentlich und sauber ist? Seine Antwort: Immer wenn wir dort sind, ist es sauber und aufgeräumt. Aha! Und was machen wir, wenn wir Besuch erwarten? Genau: Aufräumen und Staubsaugen 😀 Deswegen fand ich es ja immer gut, wenn Besuch kam, denn dann war das Haus endlich mal wieder aufgeräumt (solange man nicht in die Ecken und unters Sofa guckt… ihr wissen schon). Es kann natürlich sein, dass die „anderen“ tatsächlich geschickter darin sind, Ordnung zu halten. Aber vielleicht haben sie auch keine zwei kleinen Kinder, die alles wieder ausräumen, was man gerade weggeräumt hat, oder die lieber mit Mama spielen, als sie staubsaugen zu lassen. Oder die nur an Mama gekuschelt schlafen wollen, oder draußen spielen möchten, statt Mama beim Fenster putzen zuzusehen. Und vielleicht sind uns andere Dinge auch einfach wichtiger als Ordnung (denn zugegeben, auch schon bevor wir Kinder hatten, waren wir eher etwas chaotisch). Aber vielleicht herrscht in dem Haus der anderen auch das Chaos, bis wir uns ankündigen …

Manchmal kommt mir der Gedanke, dass andere Mütter das Leben mit zwei oder mehr Kindern entspannter schaukeln als ich. Und ich frage mich, wie sie das machen. Und es ist wie gesagt nicht verkehrt sich auszutauschen, denn es kann immer gut sein, dass man durch bestimmte Kniffe und Tricks das Leben tatsächlich einfacher und schöner gestalten kann. Aber stimmt mein Bild überhaupt, was ich über andere „entspannte“ Mütter habe?

Ich fragte vor kurzem eine Freundin, auch Mutter von zwei kleinen Kindern, wie es ihr ginge. Und sie sagte „Prima, es läuft gut.“ Wir unterhielten uns eine Weile, da erzählte sie, dass sie am Abend zuvor die Kinder dem Vater übergeben hatte, um erst einmal eine Runde zu weinen, weil sie so überlastet war. Ich konnte ihr direkt versichern, dass mir das auch einige Male so ergangen war. Jetzt zum Glück nicht mehr, aber als mein jüngstes Kind so alt war wie ihres jetzt, auf jeden Fall. Wäre unser Gespräch nach den ersten Sätzen unterbrochen worden, hätte ich den Eindruck gewinnen können, dass sie – im Gegensatz zu mir – völlig entspannt und locker das Leben mit zwei kleinen Kindern schaukelt. Erst in einem tiefer gehenden Gespräch wurde klar, dass das Bild „Sie macht das mit links“ nicht realistisch war.

Eine Freundin sagte mir einmal, dass meine Kinder so lieb und ruhig wären. Sie sind, neben vielen anderen Dingen, auch lieb und ruhig, das will ich gar nicht bestreiten. Aber mir fiel auf, dass sie meine Kinder immer nur gesehen hatte, wenn sie entspannt waren. Das für Kleinkinder typische Verhalten, das zur normalen Entwicklung einfach dazu gehört, dass sie zB gleichzeitig etwas wollen und auch nicht wollen, und darüber so frustriert und wütend werden, dass sie schreien und toben und weinen, und bei dem nur Aushalten, Geduld und Kuscheln hilft, das hat sie nie beobachtet. Wenn sie nun andere Kinder sieht, die schreien und toben und weinen, könnte sie glauben, dass mit diesen Kindern irgendetwas nicht stimmt, dabei vergleicht sie es lediglich mit einem Bild, das basiert ist auf einigen wenigen Momenten, und das absolut nicht die Realität abbildet.

Wir vergleichen uns oft mit einem „Bild“ das wir über eine andere Person haben, und nicht einmal mit der Person selbst, denn sie und ihre Umstände kennen wir meist gar nicht gut genug. Wir nehmen Momentaufnahmen und Ausschnitte, die nicht die komplette Wirklichkeit abbilden. Es ist kein Wunder, dass wir bei der ganzen Phantasie nicht mithalten können, denn Phantasie ist grenzenlos, und wir sind es nicht.

Intelligenz

Während ich mich während meines Studiums noch als recht intelligent empfunden habe, änderte sich diese Einschätzung während meiner PhD Zeit. Plötzlich war ich umgeben von wirklich klugen Menschen, und ich fragte mich, ob ich mich überschätzt hatte. Dass ich im Biophysik-Institut arbeitete, aber weder Biologie noch Physik, ja nicht einmal Mathematik studiert hatte, machte es nicht besser. Zum Glück gab es genügend Momente, in denen ich Fortschritte machte und auch in den Kursen kam ich prima mit, aber immer wieder stieß ich an meine Grenzen: Ich verstand einfach nur Bahnhof. Und statt nachzufragen und einzugestehen, dass ich etwas nicht verstand, tat ich so, als würde ich es verstehen, um mir nicht die Blöße zu geben oder als dumm wahrgenommen zu werden. Um entspannt sagen zu können „Noch einmal bitte, das verstehe ich noch nicht.“ braucht es schon Einiges an Selbstsicherheit, und die hatte ich in dem Moment nicht. Ich hatte immer geglaubt, ich sei besonders intelligent und daraus meinen Selbstwert gezogen, und nun, da ich dem Bild einer intelligenten Person nicht mehr entsprach, bröckelte mein Selbstbild und mein Selbstwert.

Dabei ist es doch so: Der absolute Wert meiner oder deiner Intelligenz ändert sich nicht. Ob wir nun umgeben sind von Menschen, die eine schnelle oder langsame Auffassungsgabe haben, ändert nichts daran, wie schnell oder langsam wir selbst etwas erfassen. Einzig die Wahrnehmung der eigenen Intelligenz kann sich verändern, denn unser Referenzpunkt kann sich verschieben. Der absolute Wert ist hingegen stabil. Wir können uns Vergleiche der Intelligenz schenken, denn unsere Intelligenz können wir schlecht durch Tipps und Tricks aufbessern. Was wir wohl können ist uns neues Wissen aneignen, was uns befähigt Sachverhalte zu verstehen. Ich musste auch erkennen, dass ich ein Physikstudium nicht eben nachholen konnte, und gegeben der zur Verfügung stehenden Zeit und meiner Ressourcen realistisch sein musste über die Tiefe, in die ich gehen konnte. Und andere Menschen müssen auch verstehen, dass nicht jeder das gleiche Vorwissen hat um direkt folgen zu können. Und vielleicht bin ich auch einfach weniger intelligent als andere. Das hindert mich nicht daran, trotzdem die Dinge zu tun, die ich tun möchte. Können es andere vielleicht schneller oder leichter? Möglich. Aber ich kann es auch, nur vielleicht mit mehr Anstrengung und es dauert länger. Es tut gut einfach zu sagen: „Das verstehe ich nicht. Kannst du es mir noch einmal anders erklären?“ Weil man zum einen einfach authentisch sein kann, und zum anderen, weil man wahrscheinlich tatsächlich schlauer wird, denn oftmals braucht es nur einen anderen Erklärungsansatz, damit man versteht. Ich habe auf jeden Fall gelernt, dass ich meinen Selbstwert nicht über meine Intelligenz ermitteln darf. Denn meine Intelligenz, sowie auch alle anderen Eigenschaften, sind einfach Eigenschaften, die nichts über den Wert einer Person aussagen. Zwei Personen, die unterschiedlich klug sind, sind gleichwertig. Und wenn ich nicht mit anderen Personen konkurriere, kann ich intelligentere Personen als Hilfe betrachten. Sie können mir helfen, Dinge zu verstehen, die ich alleine nicht verstehe. Und ich wiederum kann anderen Menschen dabei behilflich sein, Dinge zu verstehen, mit denen sie Schwierigkeiten haben, in dem ich Wege finde, sie verständlich zu machen.

Wie bestimme ich denn dann meinen Selbstwert?

Eigentlich ist das ganz einfach: Du bist genauso viel wert wie jeder andere Mensch auch. Jeder Mensch hat Eigenschaften, die je nach Situation hilfreicher oder weniger hilfreich sind, mehr oder weniger Anerkennung erhalten, als besonders oder alltäglich beurteilt werden. Vieler dieser Urteile sind subjektiv, willkürlich, manchmal auch unfair, und oft schlicht unnötig. Den Selbstwert darüber zu bestimmen, was gerade besondere Aufmerksamkeit erhält und darüber, wie gut man im Vergleich abschneidet, ist nicht sehr sinnvoll, selbst wenn man gut abschneidet. Denn wenn man gut abschneidet, urteilt man seinerseits schlecht über andere, und was bringt einem das? Da wir oft auf Konkurrenz getrimmt werden, und damit darauf, besser zu sein als andere, ist es nicht leicht, keine Vergleiche anzustellen. Aber es geht! Dazu sollte man sich zwei Dinge immer wieder vor Augen halten:

Erstens: Ich bin ich, und du bist du! Wir haben andere Gene, andere Voraussetzungen, andere Bedürfnisse, Interessen, etc. Vergleiche sind deswegen oftmals irreführend, weil sie sich zum einen nur auf einen einzigen Aspekt beschränken statt den Menschen als Ganzes wahrzunehmen und anzuerkennen, und zum anderen, weil sie uns glauben machen, wir sollten danach streben so zu sein, wie jemand anderes. Dabei wollen wir doch keine Kopie von jemandem werden.

Zweitens: Vergleiche passieren vor allem dann, wenn wir glauben besser oder anders sein zu müssen als andere, weil wir erst besonders sein müssen bevor wir jemand sein können. Wenn wir aber aufhören einander als Konkurrenten zu sehen, sondern den Fokus aus Kooperation legen, dann sind solche Vergleiche nicht mehr nötig. Wir können uns zwar noch Vergleichen um zu sehen, wo wir uns verbessern können, und um zu verstehen, wen wir am besten um Hilfe bitten können, aber ohne Drang, anders sein zu müssen, als wir sind. Wenn wir ein gemeinsames Ziel haben, dann ist es egal, wer die Intelligenteste ist, denn wir nutzen alle zusammen all die Intelligenz, die uns zur Verfügung steht, um unser Ziel zu verwirklichen. Und intelligente Menschen in unserem Team zu haben, nützt uns allen, statt uns minderwertig fühlen zu lassen. Und Menschen, die besonders strukturiert arbeiten können, können anderen Tricks zeigen, wie sie es auch hinbekommen. Statt sich beweisen zu müssen und anderen demonstrieren zu müssen, dass man jemand ist, und somit wert hat, können wir unsere Energie darauf verwenden, das Leben für uns alle schöner zu gestalten.

Was nehme ich für meine Kinder mit?

Schon kleine Kinder werden verglichen. Wer läuft als Erstes? Wer spricht als Erstes? Welches ist das Größte? Welches ist das Süßeste? Die Entwicklung der Kinder mit der gesunden Entwicklungsspanne zu vergleichen ist sinnvoll, um gegebenenfalls Entwicklungsstörungen frühzeitig zu erkennen und ihnen entgegen wirken zu können. Aber Kinder untereinander zu vergleichen ist nicht nur unsinnig, weil es nun einmal ein Kind geben muss, das als erstes läuft oder spricht, und es absolut nichts über die Wertigkeit des Kindes, ja nicht einmal über die elterlichen Fähigkeiten aussagt, es ist zudem gemein den Kindern gegenüber, denn sie sind komplexe Wesen mit vielen Eigenschaften, Interessen und ganz eigenen Bedürfnissen und Charakteren. Vergleiche suggerieren auch schon Kindern, dass sie nicht gut genug sind, oder nur toll sind, wenn sie etwas besser können, als ein anderes Kind. Und das ist Schwachsinn und so verletzend. Daher ist es mein Ziel meinen Kindern immer den Rückhalt zu geben, sodass sie sein können wie sie sind, und das machen können, was sie glücklich macht, und sie sich eben nicht auf der Selbstwert-Ebene mit anderen Kindern vergleichen müssen. Ich hoffe wirklich, dass es mir gelingt, den Einfluss von außen, und eventuell auch meine eigenen Automatismen einzuschränken, sodass sie den Fokus darauf legen können, herauszufinden was sie selbst brauchen und möchten, statt darauf zu probieren so zu sein, wie sie glauben, dass andere sind oder sie selbst sein sollten.

Fazit:

Wenn wir uns vergleichen, sollte der Vergleich zu etwas führen, das uns weiterbringt. Zum Beispiel kann ich über einen Vergleich gut herausfinden, was ich selbst möchte oder nicht möchte. Und ich kann eventuell herausfinden, was mir das Leben einfacher machen könnte. Oder ich kann neue Techniken lernen, die Spaß machen. Solange ich über einen Vergleich etwas erfahre, dass sich in mein Leben implementieren lässt und es so schöner macht, ist dieser gut und sinnvoll.

Alle Vergleiche, die darauf abzielen, den eigenen Wert zu messen, sind hingegen sinnlos. Der Wert eines Mensch steigt nicht mit seiner Besonderheit und er sinkt nicht mit seinen vermeintlichen Schwächen. Beziehungsweise, er sollte es nicht. Denn in einer Gesellschaft, in der der Nachdruck auf Konkurrenz liegt, kann man schnell diesen Eindruck bekommen. Aber es liegt an uns bei diesem „Spiel“ mitzumachen. Möglich ist auch eine Gesellschaft mit dem Nachdruck auf ein Miteinander und dem Fokus auf Kooperation, in dem solche Vergleiche unnötig sind. Ich jedenfalls möchte nicht erst im Vergleich zu anderen oder irgendwelchen Idealen zu jemand werden. Ich möchte einfach sein. Ich bin so hübsch, intelligent, belesen, freundlich, geduldig, aggressiv, unsicher, charmant, behilflich, liebevoll, reizbar, träge und witzig wie ich eben bin. Ganz unabhängig davon, wie hübsch, aggressiv oder liebevoll jemand anderes ist oder wie charmant und witzig ich einem Ideal zufolge sein sollte. Und es fühlt sich gut an, einfach zu sein, statt erst im Vergleich zu anderen zu existieren.

Uns über andere zu definieren heißt zudem zu riskieren, Dinge zu tun und nach Dingen zu streben, die uns eigentlich gar nicht wichtig sind, und zu Kopien anderer zu werden. Und wenn wir uns einreden oder einreden lassen, dass wir erst wertvoll werden, wenn wir besonders sind, können wir nicht langfristig glücklich und zufrieden sein, denn es wird immer jemanden geben, der klüger oder schneller ist, mehr besitzt oder auch mit weniger auskommt – wenn das denn unser Ziel ist. Wenn wir einfach sind, ohne den Druck besonders sein zu müssen, sondern einfach ein Mensch unter anderen Menschen, wird es uns leichter fallen gelassen und zufrieden mit uns selbst zu sein. So haben wir die Möglichkeit im Hier und Jetzt unsere Leben zu genießen, statt darauf zu warten endlich den Punkt zu erreichen an dem wir klug, schön, diszipliniert, fleißig, geduldig, vermögend genug sind, um zufrieden sein zu dürfen. Ohne Vergleiche können wir in uns ruhen und akzeptieren, dass wir so sind, wie wir sind, und auch andere Menschen so annehmen, wie sie sind, statt diese mit Idealen oder mit anderen Menschen zu vergleichen um ihren Wert zu ermitteln. Sich nicht – beziehungsweise sich auf eine nützliche Weise – zu vergleichen kann man lernen, dazu muss man sich immer wieder bewusst werden, wann und wie man sich vergleicht, und was es mit einem macht. Und wenn wir es schaffen aufzuhören uns selbst erst beweisen zu müssen, können wir anfangen uns um die Probleme zu kümmern, die wirklich wichtig sind und die wirklich unserer Aufmerksamkeit und Energie bedürfen. Ich denke hierbei an die Leben unserer Mitmenschen. Statt den Fokus auf unsere Schwächen zu richten sollten wir uns auf unsere Stärken konzentrieren und überlegen, wie wir sie einsetzen können, um nicht (nur) unser eigenes Leben zu verbessern, wie es in der Konkurrenz-Gesellschaft gepredigt wird, sondern darauf, das Leben aller Menschen zu verbessern. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht wirklich glücklich sein könnte, selbst wenn ich der schönste, reichste, erfolgreichste, klügste Mensch auf der Welt wäre, solange es andere Menschen gibt, denen es nicht gut geht. Und darum muss der Fokus weg von immer nur ich-ich-ich, hin zu wir-wir-wir, und da ist es egal, ob ich Mitesser habe oder nicht den allerbesten Artikel schreiben kann. Wenn mein Selbstwert feststeht und nicht immer wieder ermittelt werden muss, und meine Stärken, statt meine vermeintlichen Schwächen zentral stehen, kann ich mich darauf konzentrieren mit dem was ich wohl habe und was ich wohl kann, im Rahmen meiner Möglichkeiten eben, Mehrwert für andere zu kreieren.

Mit den allerliebsten Grüßen,

RE

Den eigenen Weg gehen

Als soziale Tiere, die wir sind, ist es verständlich, dass wir nicht unangenehm auffallen und von anderen akzeptiert werden möchten. Das setzt für gewöhnlich voraus, dass wir nicht zu anders sind. Je nach sozialer Gruppe kann der Druck sich anzupassen leicht oder enorm sein, und wird bei Missachtung unter Umständen mit Ausschluss bestraft. Anders zu sein, beziehungsweise Dinge anders zu tun, ist eigentlich immer mit Anstrengung verbunden: Oft wird man dazu aufgefordert (genötigt) sich zu erklären und zu rechtfertigen; man muss Kritik, Hohn und Ablehnung aushalten; und auch das Aneignen und die Implementation neuen Wissens ist erst einmal mit Zeit- und Energieaufwand verbunden. Dennoch sehe ich drei gute Gründe, um dann und wann von der Norm oder den Erwartungen anderer abzuweichen, die es der Mühe wert sind:

1. Authentischer und somit glücklicher sein

Wir werden regelmäßig mit Erwartungshaltungen anderer konfrontiert, die nicht mit unseren eigenen Bedürfnissen übereinstimmen. In solchen Fällen müssen wir eine Wahl treffen: uns entweder nach den Erwartungen anderer richten, oder nach dem, was wir selbst möchten oder brauchen. Vergangene Erfahrungen haben mir immer wieder deutlich demonstriert, dass ein Verbiegen vielleicht jemand anderes zufrieden stellt, einen selbst aber nicht, und es sehr befriedigend ist, stattdessen dem eigenen Weg zu folgen. Wenn wir authentisch sind, authentisch sein dürfen, führen wir glücklichere Leben.

Beispiel Kleiderordnung

Hier könnte ich Unmengen Beispiele bringen, aber ich werde mich auf zwei beschränken, die wahrscheinlich den Kerngedanken verdeutlichen: 1) Zu meinem Abiball trug ich eine weiße Sommerhose und ein ganz normales, schwarzes Top. Das kam nicht bei jedem toll an. Mir wurde unterstellt, dass ich es nur täte, um es anders zu machen, als die anderen. Dem war nicht so. Die Idee, mir ein feines Kleid anzuziehen, die Haare bei einem Friseur frisieren zu lassen und mich dick zu schminken, nur weil es so erwartet wird, war und ist mir einfach unangenehm. Für ein Kleid, das ich wahrscheinlich nur einmal anziehe, so viel Geld auszugeben erschien mir zudem idiotisch (ist es auch!). Ein Ballkleid zu tragen mochte der Traum meiner Mitschülerinnen gewesen sein, meiner war es eindeutig nicht und hätte ich eines angezogen, dann nur, um den Erwartungen anderer zu entsprechen, und nicht, weil es mir selbst gefiel. Ich habe es also nicht getan, weil die Meinung der anderen mir nicht wichtiger war, als authentisch zu bleiben und mich wohl zu fühlen. 2) Ich habe mir irgendwann Zehen-Barfußschuhe bestellt, weil ich gerne barfuß laufe, und mit großer Freude feststellte, dass es Schuhe gab, die es mir ermöglichten, auch draußen „wie barfuß“ zu laufen. Meine Reaktion auf den Kommentar „Die willst du doch aber nicht wirklich in der Öffentlichkeit tragen“ war „Doch, na klar, das ist ja Sinn und Zweck der Schuhe, im Haus laufe ich ja bereits barfuß.“ Die erste Zeit war seltsam, zum einen, weil meine Füße sich an die Schuhe gewöhnen mussten, aber auch, weil mein Umfeld diese Schuhe noch nicht kannte und Blicke und Kommentare, aber auch viele Interessensfragen dazu gehörten. Das ist auch ganz natürlich. Ich gucke auch, wenn etwas neu ist, das signalisiert keine Ablehnung. Es wurden aber auch Witze gerissen. Die Schuhe wurden oft lächerlich gemacht. Affenfuß und so… Aber ich stellte fest, dass ich in den Schuhen gerne lief, und nicht zu den alten zurück wollte. Ein Einknicken hätte also bedeutet, dass ich mich einer Kleiderordnung unterwerfe, die mir nicht gut tut, nur weil irgendwer findet, ich sollte andere Schuhe tragen, wobei meine Schuhwahl überhaupt keine negativen Konsequenzen für die andere Person bedeutete. Wieder war es so: Die Meinung anderer war mir nicht wichtiger, als authentisch zu bleiben und mich wohl zu fühlen. Und irgendwann hatten sich alle dran gewöhnt und die Schuhe waren kein Thema mehr. Besser noch, irgendwann liefen wir schon zu dritt mit Barfußschuhen über den Flur…

Beispiel Ich kann heute doch nicht

Wenn man eine Verabredung hat, aber eigentlich gerade lieber etwas anderes tun möchte, oder einfach im Moment keine Lust auf das Treffen hat, hat man ein Problem. Entweder man geht doch zu dem Treffen und macht irgendwie das Beste draus, oder man sagt ab. Wenn man absagt, noch dazu kurzfristig, gebietet es in der Regel das Gebot der Höflichkeit, sich zu erklären. Dann bewegt man sich schon mal auf einem schmalen Grat zwischen möglicherweise kränkender Wahrheit und netter Lüge, wenn man versucht, einen guten Grund zu nennen, denn „keine Lust“ oder „geht dich nichts an“ oder „will ich jetzt nicht erklären“ sind meist keine anerkannten Gründe. Dann ist es manchmal kurzfristig gesehen doch leichter, einfach hinzugehen, auch wenn man nicht authentisch ist. Meine Schwester hat dieses komplexe Problem ärgerlich-elegant gelöst. Sie sagt ab, ohne einen Grund zu nennen. Ich muss zugeben, dass das zu Beginn schon sehr irritierend war, schließlich hatte ich mich drauf gefreut, sie zu sehen, und die kurzfristigen Absagen ohne Erklärung gaben mir erst einmal das Gefühl, dass ich ihr nicht wichtig genug war. Man ist es so gewohnt, dass eine andere Person einem erklärt, was ihr dazwischen gekommen ist, dass man glaubt, ein Recht auf eine Erklärung zu haben. Aus einer Erklärung hört man zudem heraus, ob der Person wirklich etwas dazwischen gekommen ist, oder ob es vielleicht doch etwas Persönliches ist, die Person einen also vielleicht gar nicht mag. Passieren Absagen öfter kapiert man es irgendwann, und unternimmt keine weiteren Versuche, den Kontakt aufrecht zu erhalten. Da ich aber bei meiner Schwester immer und immer wieder feststellte, dass sie sich um mich bemühte, ihr also der Kontakt sehr wohl wichtig wahr, konnte es das nicht sein. Und irgendwann fing ich an ihre erklärungsfreien Absagen ziemlich cool, sogar bewundernswert, zu finden. Ich musste mich wohl erst daran gewöhnen, dass geplante Treffen immer wieder platzten, und sie irgendwann auch einfach nur sagte „Mh, ja vielleicht, wenn es an dem Tag gerade passt.“ Ich musste umdenken, aber wenn man das einmal geschafft hat, ist es völlig in Ordnung. Ich weiß, dass sie ihre Gründe hat, es so zu tun. Ich kann sie nicht komplett nachvollziehen, aber das ist auch nicht wichtig. Sie macht es so, und ich kann mich entweder darüber ärgern oder einfach akzeptieren, dass sie es so macht, wie es für sie richtig ist. Ich will ja auch gar nicht, dass sie sich mit mir trifft, nur weil sie sich dazu verpflichtet fühlt. Ich möchte mich mit ihr treffen, wenn es uns beiden passt, wenn wir beide Bock haben, und nicht, weil das Treffen halt geplant ist und man nicht absagen kann. Es liegt auch in meiner Verantwortung selbstständig Alternativen zu finden, wenn ein Treffen nicht hinhaut. Ich plane jetzt keine Treffen mehr mit meiner Schwester, aber wir geben uns gegenseitig kurzfristig an, wenn wir Zeit haben. Wenn es passt, prima, wenn nicht, dann nicht. Mein Punkt ist, anders-handeln muss nicht zum Problem werden, wenn die Gegenseite (in diesem Fall bin ich das) ein bisschen Anpassungswillen und Verständnis zeigt, statt auf einem festgelegten Kodex zu beharren. Und wenn mir etwas dazwischen kommt oder ich keine Lust habe und etwas anderes tun möchte, reicht auch ein kurzes „Geht heute nicht“, und gut ist. Keine verletzten Gefühle, kein gekränktes Ego, aber auch keine Lügen und Ausflüchte, sondern einfach mehr Authentizität. Und Treffen, die dann wohl stattfinden, sind umso schöner, weil wir wissen, dass wir beide wirklich Bock haben. Der Grund „Ich möchte einfach nicht“, sollte als guter Grund akzeptiert und respektiert werden. Manchmal ist es schon nicht leicht herauszufinden, was einem gerade gut tut und was man braucht, aber wenn das klar ist, dann sollten Menschen darin unterstützt werden, die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen, und nicht durch etwaiges Einreden von Schuldgefühlen oder Androhung von Verärgerung dazu genötigt werden, ihre eigenen Bedürfnisse zu ignorieren. Wenn wir das alle mehr täten, bin ich mir sicher, würden wir alle insgesamt glücklichere Leben führen. Im Zweifelsfall kann man der anderen Person auch eben sagen, dass man nicht mehr dem Kodex entsprechend absagt, dies aber kein Anzeichen von Ablehnung ist, nur um Missverständnissen vorzubeugen… 😉

2. Anderen den Weg ebnen

Wenn wir Dinge anders machen, weil es zum Beispiel eher unserer Natur entspricht, machen wir nicht nur uns selbst das Leben langfristig einfacher/schöner, wir erleichtern es zudem auch anderen, von der Norm abzuweichen. Ich hatte gute Vorbilder in meiner Kindheit und Jugend, die mir zum einen Alternativen aufwiesen und mir zugleich zeigten, dass abzuweichen keine dramatischen, negativen Konsequenzen hat (meistens jedenfalls). Die Tatsache, dass es diese Vorbilder gab, inspirierte mich dazu mir immer wieder die Fragen zu stellen „Will ich das eigentlich?“ und „Was will ich selbst?“ Und wenn nötig einfach „Nein“ zu sagen und mich nicht von Druck oder negativen Reaktionen beirren zu lassen. Vorbilder zu haben ist wichtig, denn „Seeing is believing!“ Wenn du siehst, dass andere es auch machen, dann ist die Hürde nicht so groß es selbst zu probieren. Und wenn du selbst dann von der Norm abweichst, wenn es dir sinnvoll und richtig erscheint, dann kannst du für jemand anderes zu einem Vorbild werden.

Beispiel Alkohol

Meine Mutter hat nie Alkohol getrunken. Wer das genauso macht, oder ab und an mal in einer Gruppe dem Alkohol entsagt, wird wissen, dass das nicht immer so einfach hingenommen wird, wie es hingenommen werden sollte. Da meine Mutter aber schon einmal nicht trank, konnte ich sehen, dass das eine Option war. Ich hatte eine Wahl, und Alkohol zu trinken war kein „muss“, wie es oft genug den Anschein hat. Ich wurde auch regelmäßig nach den Gründen gefragt, warum ich keinen Alkohol trank. Zum Beispiel wurde ich gefragt, ob ich trockene Alkoholikerin sei, ob ich irgendeiner Religion folgte, die Alkohol ablehnte, ob ich schwanger sei, usw. Indirekt schwang immer die Frage mit „Was stimmt nicht mit dir?“ Es gab auch immer irgendwelche Fremden (es waren nie Freunde), die es nicht zu verkraften schienen, dass es jemanden gab, der nüchtern blieb, und mich durch gutes Zureden, aber auch genervt sein und Verärgerung davon zu überzeugen versuchten, es doch einmal zu probieren. Jeder Überredungsversuch und jedes Drängen blieben ergebnislos und irgendwann gaben sie (manchmal sehr schlecht gelaunt) auf. Im Vergleich zu dem, was meine Mutter erlebte, in einem Dorf wohnend, in dem Alkohol reichlich und regelmäßig floss, waren meine Erlebnisse von relativ harmloser Natur. Ich hatte oft das Gefühl, dass meine Mutter dadurch, dass sie ihre Kämpfe ausgefochten hat, es mir – eine Generation später – erleichtert hat, meine zu bestreiten, denn ich denke, dass der Verzicht auf Alkohol inzwischen schon eher als „normal“ akzeptiert wird, als zu ihren (Jugend-)Zeiten. Aber dazu mussten erst Leute, wie meine Mutter, anders handeln, um das anders normaler zu machen. Außerdem stärkte mir das Wissen, dass meine Mutter sich nicht hatte beirren lassen, den Rücken, um dem Drängen nicht nachzugeben.

Beispiel Homosexualität

Dass heutzutage gleichgeschlechtliche Paare in einigen – aber bei weitem nicht allen Ländern – ihre Beziehung öffentlich zeigen können, ohne ständig mit Anfeindungen und Gewalt rechnen zu müssen (obwohl auch das noch weiterhin leider viel zu oft geschieht), ist jenen Menschen zu verdanken, die in der Vergangenheit ihr „Anders als die Mehrheitsgesellschaft“ öffentlich gezeigt haben, und die negativen Reaktionen ausgehalten haben, statt sich zu verstecken oder ihr anders-sein zu verleugnen. Auch die Menschen, die sich heute „outen“ tragen dazu bei, das anders-sein normaler zu machen und Akzeptanz und Gleichberechtigung näher zu kommen. Ich hoffe, dass ein „outen“ irgendwann nicht mehr nötig sein wird, weil es wirklich egal sein wird, ob man hetero- bi- homo- a- etc- sexuell ist, aber im Moment ist es wichtig, der Mehrheit zu zeigen, dass Abweichungen von der Norm keine Krankheit, und mit Sicherheit nicht gefährlich sind, und nur dann zum Problem werden, wenn andere sie zu einem Problem machen. Und es ist wichtig um jenen, die merken, dass sie anders sind, zu zeigen, dass sie nicht alleine sind, vielleicht auch gerade in jenen Ländern, in denen Homosexualität ein Tabu ist und mit Scham und Angst behaftet ist, in denen Menschen aber via socialmedia Vorbilder und Akzeptanz finden können.

3. Fortschritt einleiten

Wenn wir alle immer nur täten, was alle anderen tun, würden wir alle zusammen auf der Stelle treten und nicht voran kommen. Es gibt aber so viel Verbesserungsspielraum, auf allen möglichen Gebieten, wir können es uns gar nicht leisten, nicht nach Alternativen zu suchen. Nicht jede Alternative ist besser, aber manchmal braucht es eine Versuch-und-Irrtum Herangehensweise, um letztendlich Fortschritte zu machen. Es braucht Menschen, die sich ab und an einmal quer stellen und Denk- und Verhaltensmuster in Frage stellen. Dies schafft wieder mehr Raum für andere Möglichkeiten, die womöglich mehr Menschen gerecht werden und auch dem Zeitgeist entsprechen.

Beispiel Veganismus

Nicht die Tatsache, dass ich etwas esse, sondern die Tatsache, dass ich etwas nicht esse, hat schon zu so mancher Diskussion geführt. An manchen Konflikten war ich aktiv beteiligt, indem ich auf Konfrontationskurs gegangen bin, aber hier bespreche ich nur jene, bei der schon allein das anders-sein zu einem Problem gemacht wurde. Ich wurde als naiv dargestellt „Nur weil du jetzt aufhörst, Fleisch zu essen, rettest du damit nicht die Welt“. Das Leid anderer Lebewesen wurde als unwichtig dargestellt „Kümmere dich doch erst einmal um die wirklich wichtigen Probleme“ (als müssten Probleme seriell statt parallel gelöst werden). Es wurde wieder unterstellt, dass ich mich selbst damit wichtig machen wollte „Das machst du nur, um anders zu sein.“ Es wurde versucht zu provozieren „Guck mal, ich esse jetzt gaaanz viel Fleisch!“ Ich wurde als Hippie dargestellt. Ich wurde darauf hingewiesen, wie ungesund all dieser vegane Kram doch sei (Fleisch ist ja bekanntermaßen sehr gesund…). Es wurde immer wieder versucht zu zeigen, dass ich falsch liege und mal bitte nicht so radikal sein solle. Das Wort radikal wurde oft genannt, als wäre ich eine schwer bewaffnete Widerstandskämpferin, die mit aller Härte und rücksichtslos kämpft, und nicht einfach eine Person, die nur einen Teil dessen, was sie sonst gegessen hat, nicht mehr isst. Irgendwann haben Menschen damit angefangen, die Haltung und Ausbeutung der Tiere zu hinterfragen, und ihre Konsequenzen zu ziehen. Als ich damit anfing, Ende 2010, konnte ich bereits auf Wissen zurückgreifen, das andere aufgetan und geteilt haben, und das mir eine Umstellung immens erleichtert hat. Das Angebot für Veganer hat sich in den Jahren seitdem immens gesteigert und Veganismus wird nicht mehr als Hype betrachtet, sondern ernst genommen. Inzwischen merke ich, dass nicht ich mich erklären muss, sondern die nicht-Veganer anfangen, sich zu rechtfertigen. Es fängt immer mit Einzelpersonen an, die kritisch auf die gegenwärtige Situation blicken und Wege finden, Dinge zu verbessern, die Welt für alle gerechter zu gestalten, vor allem für jene, die sich selbst nicht helfen können und die ausgeliefert sind. Und wenn die, die es aushalten können, nicht einknicken, wenn sie lächerlich gemacht und angefeindet werden, kann aus Einzelnen eine Bewegung werden, die die Verhältnisse zum Besseren verändert.

Beispiel Frauenwahlrecht

Dieses Thema bedarf eines eigenen Artikels, und ich werde es hier nur kurz – und im Kontext des Themas dieses Artikels anreißen: Jene Frauen, die für alle nachfolgenden Generationen für das Wahlrecht kämpften, waren anders. Sie haben die Ungerechtigkeit nicht nur erkannt, sie haben sich zusammen getan und ganz „unweiblich“ dafür gekämpft, die gleichen Rechte zu haben, wie Männer. Sie haben sich also nicht an der Erwartungshaltung orientiert, die sie in eine fixe Rolle zu pressen versuchte (sei lieb, störe nicht, sei nicht schwierig, kenne deinen Platz, überlass es den Männern, wichtige Entscheidungen zu treffen und kümmere du dich ums Haus), sondern sind ihren eigenen Wegen gefolgt. Und nur so kann Fortschritt überhaupt erst entstehen! Wir dürfen uns nicht an ungerechte Verhältnisse anpassen, nicht Ungerechtigkeit akzeptieren, sondern müssen sie erkennen und Rechte einfordern und erkämpfen. Für uns selbst, aber auch für andere, die es vielleicht nicht können. Auch wenn wir beschimpft, angefeindet, ja sogar bedroht werden, denn unsere Freiheiten und Rechte, die wir heute genießen, wurden von jenen erkämpft, die vor uns kamen, und nachfolgende Generationen werden von den Freiheiten und Rechten profitieren, die wir uns und ihnen erkämpfen.

Woher weiß ich, was ich selbst will?

Herauszufinden, was man eigentlich selbst wirklich möchte, ist manchmal gar nicht so leicht. Mir hilft es, mir selbst die folgenden Fragen zu stellen: Was würde ich tun, wenn ich ganz allein auf diesem Planeten wäre? Alles wäre wie jetzt, nur die anderen Menschen, und damit der soziale Druck, wären plötzlich weg. Würde ich Alkohol trinken? Nein! Würde ich auf hochhackigen Schuhen herumlaufen? Nein! Würde ich mich in giftigen Rauch stellen? Nein! Würde ich zwar schicke, aber unpraktische Kleidung tragen? Nein! Würde ich mich schminken? Nein! Aber auch: Würde ich im Park Yoga machen? Ja! Würde ich allein ins Kino oder zu anderen Veranstaltungen, die mich interessieren, gehen? Klar! (müsste ich ja dann… 😉 ). Würde ich beim Spazierengehen singen? Bestimmt ab und an. Würde ich manchmal einfach laut schreien? Auf jeden Fall! Natürlich eignen sich nicht alle Antworten dafür, in einer Welt mit anderen Menschen umgesetzt zu werden, da muss man schon unterscheiden ;). Es geht erst einmal darum herauszufinden, was man selbst möchte, und das testet man dann auf Durchführbarkeit in der realen Welt. Ich möchte andere Menschen durch mein Handeln nicht in ihren Freiheiten beschneiden, aber wenn es nur um Enttäuschungen unrealistischer Erwartungen, selbstverschuldete Verärgerung oder Unverständnis geht, sind mir meine Bedürfnisse wichtiger.

Die zweite Frage, die ich mir stelle ist: Wenn ich alt bin und kurz davor zu sterben, und dann auf mein Leben zurück blicke, werde ich es bereuen dieses oder jenes getan, bzw. nicht getan zu haben? Werde ich sagen können „Ich habe mein Leben gut gelebt!“ oder werde ich denken „Ich habe zu sehr ein Leben gelebt, dass gar nicht mein eigenes war.“? Ich habe mich zum Beispiel bewusst dazu entschieden, die erste Zeit mit meinen Kindern zu verbringen, und sie nicht mit knapp 3 Monaten abzugeben um wieder arbeiten zu gehen (Ich lebe in den Niederlanden, da ist das möglich). Ich weiß, dass es finanziell gesehen keine gute Entscheidung für mich war. Während mein Partner arbeitet und befördert wird und in seine Rentenkasse einzahlt, verpasse ich all das. Und sollten wir uns trennen, oder er sterben, stünde ich auch erst einmal finanziell schlecht da, während er – wenn wir uns nur trennen und er also noch lebt – finanziell perfekt dasteht. Ich weiß all das, aber ich finde einfach, dass beide Optionen scheiße sind! Denn die andere Option wäre gewesen, meine winzigen Babys an eine wildfremde Person abzugeben, ständig Milch abpumpen zu müssen, die meinem Kind dann über die Flasche gegeben würde, und sie nur morgens und abends zu sehen. Und obwohl ich es großartig finde, dass es das Angebot gibt, wollte ich keinen Gebrauch davon machen, weil ich eben bei meinen Kindern sein wollte. Meine Frage „Was würdest du über dein Leben denken, wenn du deine Kinder so früh abgegeben hättest um arbeiten gehen zu können?“ habe ich beantwortet mit „Ich würde denken, dass ich fremdgesteuert war, denn meine Kinder abzugeben wäre nicht aus einem Wunsch, noch einer Notwendigkeit heraus, sondern aufgrund von sozialem Druck oder finanziellen Überlegungen heraus geschehen, und hätte im Widerspruch zu meinem eigenen Bedürfnis gestanden, diese kostbare Zeit mit meinen Kindern verbringen zu dürfen.“ Wäre der Kontext anders gewesen, zB. wenn ich mir das Stillen mit meinem Mann hätte teilen können, oder wir die Kinder bei jemandem hätten lassen können, dem wir vertrauten, oder meine Arbeitsstelle hätte eine Betreuung angeboten, die es mir erlaubt hätte meine Kinder zwischendurch zu sehen, hätte ich das anders lösen können.

Vorbilder: Wenn du bei jemand anderem etwas siehst, das dir gut gefällt, dann kann auch das dir darüber Aufschluss geben, was du dir für dich selbst wünschst.

Grundüberzeugungen: Was sind die Dinge, an die du glaubst? Bei der Nichtbeachtung welches Prinzips fühlst du dich schlecht? Bei mir sind Gerechtigkeit, Gesundheit, und Authentizität zum Beispiel Kernpunkte, die mein Denken und mein Handeln beeinflussen. Und das Wissen darüber, dass dies Kernpunkte sind, hilft mir dabei (oft, nicht immer) sicher und angemessen zu reagieren, wenn sie in irgendeiner Form bedroht oder missachtet werden. Zum Beispiel einzuschreiten, wenn jemand gemobbt wird, mich in einer Pause von Leuten zu distanzieren, wenn sie anfangen zu rauchen, oder nicht zu sozialen Veranstaltungen zu gehen, die mir keinen Spaß machen.

Innerlich seufzen: Ein großes Familientreffen wird geplant – seufz. Einladungskarten müssen verschickt werden – seufz. Die Rechnung soll zu gleichen Teilen durch alle Anwesenden gezahlt werden und man hat selbst nur Wasser getrunken – seufz . Wenn man geheiratet hat, trägt man einen Ehering – seufz. Komm, lass uns in die laute Bar mit ganz vielen, lauten und teilweise angetrunkenen Menschen gehen, wo wir uns eh nicht wirklich unterhalten können, aber immerhin etwas unternehmen – seufz. Das innere Seufzen zeigt mir ganz gut an, wenn etwas erwartet wird, was ich selbst gar nicht möchte. Und wenn ich anfange zu überlegen, wie ich aus der Nummer vielleicht doch noch raus komme, ist es eindeutig. Daher gehe ich nicht zu einem Familientreffen mir unbekannter Verwandter; ich verschicke Einladungen via Email; ich bezahle nur, was ich selbst konsumiert habe; habe ohne Ring geheiratet; und treffe mich mit Freunden zuhause und spiele Brettspiele.

Wie gehe ich mit negativen Reaktionen um? Wie halte ich sie aus?

Im Nachfolgenden werde ich ein paar Punkte ansprechen, die es hoffentlich leichter machen negative Reaktionen richtig einzuordnen und sich nicht von ihnen beirren zu lassen. Dazu gehört vor allem zu verstehen, warum Menschen sich mitunter ablehnend verhalten. Da es aber auch möglich ist, dass negative Reaktionen berechtigt sind und man sein Handeln noch einmal überdenken sollte, können folgende Fragen dabei helfen das eigene Handeln und die Reaktionen zu prüfen.

Habe ich gute Gründe für mein Handeln?

Beschneide ich jemanden in seiner Freiheit?

Würde ich es jemand anderes übel nehmen, wenn er sich so verhielte, wie ich es tue?

Verrenne ich mich gerade in abstrusen Ideen und meine Mitmenschen wollen mich nur vor mir selbst schützen? (zB. Bin ich drauf und dran mich einer Gruppe anzuschließen, die glaubt das einzig wahre Wissen zu haben und sie lediglich absolute Zuwendung und all mein Geld wollen, und Menschen, die ich eigentlich mag, raten mir dazu meine Entscheidung doch bitte noch einmal zu überdenken?)

Beispiel: Mein damaliger Freund wollte mich seiner Mutter vorstellen. Sie war aber Raucherin. Ich erklärte, dass ich mich nur mit ihr treffen würde, wenn sie für die Dauer unseres Treffens nicht rauchen würde. Ihre Antwort war eindeutig: In ihrem Haus macht sie, was sie will. Das war also geklärt. Meine Mutter sprach sich dafür aus trotzdem hinzugehen. Ich war ziemlich überrascht! Wieso sollte ich mich in einen Raum mit einer rauchenden Person setzen? Das klang ziemlich idiotisch. Aber überprüfen wir kurz meine Haltung, nur um ganz sicher zu gehen. Habe ich gute Gründe? Absolut! Mir ist meine Gesundheit sehr wichtig, und ich sehe gar nicht ein jemanden zu erlauben meine Gesundheit durch sein blödes Verhalten zu gefährden. Beschneide ich jemanden in seiner Freiheit? Nein, denn die betroffene Person hatte eine Wahl, und sie hat sich fürs Rauchen entschieden. Würde ich es einer anderen Person übel nehmen, mich nicht zu treffen, weil ich ihre Gesundheit gefährde? Absolut nicht!Verrenne ich mich in abstrusen Ideen? Nein, der schädliche Effekt von passiv Rauchen ist eindeutig wissenschaftlich belegt. Ganz klar: meine Haltung war vernünftig und schadete niemandem. Etwaiger Druck, doch zu einem Treffen hinzugehen, war nur dem Kodex geschuldet, nicht schwierig zu sein. Meine Gesundheit gewinnt aber immer gegen „nicht schwierig sein“. Wir haben uns dann doch getroffen, einige Monate später, im Sommer, im Garten. Sie konnte rauchen und ich saß so, dass ich keinen Rauch abbekam. Und siehe da, ich war die erste Freundin, die sie gut leiden mochte.

Des Weiteren ist es wichtig zu wissen, dass negative Reaktionen oft mehr über die andere Person aussagen, als über einen selbst. Warum stört es jemand anderes, wenn ich keinen Alkohol trinke? Es könnte ihm doch egal sein! Vielleicht stört es ihn ja, dass es jemanden gibt, der bei Verstand bleibt und sieht, wie er sich verhält, wenn er getrunken hat. Und er glaubt in betrunkenem Zustand kein gutes Bild abzugeben. Vielleicht fürchtet er sich vor meiner Verurteilung. Würde ich trinken und genauso abstürzen, gäbe es niemanden, der urteilen dürfte. Er hat also nur ein Problem mit meiner Abstinenz, weil er nicht dazu stehen kann, was er selbst tut. Ist das mein Problem, oder seines? Genau, seines, das er versucht zu meinem zu machen. Wie oft habe ich zudem von anderen gehört, dass sie sich zwar damals abwertend über mein Verhalten geäußert haben, im Nachhinein jedoch festgestellt haben, dass ich es richtig gemacht habe, nur sie es zu der Zeit nicht erkannt haben oder eingestehen wollten. Eine ablehnende Haltung zeigt nicht per se an, ob das eigene Handeln falsch ist. Manchmal liegen einfach die anderen falsch.

Generell hilft es mir auch, dass ich eine eher geringe Meinung habe über die Mehrheitsgesellschaft (zu der ich natürlich selbst oft genug gehöre) habe. Es kommt mir oft so vor, als würde ihr/unser Handeln vor allem durch Gewohnheit und Eigennutz, und nicht durch gut überlegte Gründe bestimmt. Zudem ist sie nicht bereit, oder unglaublich träge darin, neue Erkenntnisse und Einsichten in zielführende Anpassungen zu verwandeln. Wenn Veränderungen Umstände bereiten, oder den eigenen Luxus beschneiden, wollen viele nichts von ihnen wissen, und zeigen sich ablehnend und verhöhnen solche, die wohl dazu bereit sind, gerne als Spinner. Auf die Meinung der Mehrheitsgesellschaft kann man also nicht immer viel geben. Die Meinung anderer erachte ich deswegen zwar nicht als unwichtig, denn ich brauche andere um mir gutes Feedback zu geben und mich auf Fehler hinzuweisen, aber die Meinung anderer ist nicht per se wichtiger, als meine eigene Meinung! Und wenn ich gut unterbaute Gründe habe um zu handeln, wie ich es tue, und jemand reagiert negativ, dann zweifle ich nicht automatisch an mir, sondern erst einmal an der anderen Person, und die andere Person muss mit guten Argumenten kommen, um mich von der Falschheit meiner Position zu überzeugen. Wenn lediglich Spott oder Unverständnis geäußert wird, hat das nicht viel zu bedeuten.

Manchmal befürchtet man anzuecken, und die Gunst der anderen mit seinem anders-sein zu verlieren. Aber oft ist es gerade das anders-sein, dass einen positiv heraushebt. Ich mag Menschen, die anders sind, weil sie zeigen, dass sie für das einstehen, was sie für richtig halten. Sie sind wohl eher keine Fähnchen im Wind und daher verlässlicher als solche, die einfach mit dem Strom schwimmen und nur machen, was andere machen, oder einem nach dem Mund reden. Wenn es einmal ernst wird habe ich lieber jemanden an meiner Seite, der ein bisschen anders ist, als jemand, der sich zu sehr nach der Meinung anderer richtet und der bei lauem Gegenwind umkippt.

Zwischendurch wurde mein „anders sein“ fast schon zum Sport. Ich habe auf alle möglichen Anfragen erst einfach mal „Nein“ geantwortet. Erst nein sagen und dann ja ist eh meistens einfacher als anders herum. Wenn man denn nein sagen kann… Aber fängt man erst einmal damit an, merkt man, dass das auch immer einfacher wird, je öfter man es tut. Die Leute gewöhnen sich dran, und man selbst auch. (Ist der Ruf erst ruiniert …. 😉 ). Bald fühlt sich das aus der Reihe tanzen nicht mehr wie eine große Sache, sondern ziemlich normal an. Und jedes Mal wird man in dem Wissen gestärkt, dass es sich i) gut anfühlt authentisch zu handeln ii) meistens die Reaktionen nicht dramatisch sind iii) man Gegenwind aushalten kann, und jedes Mal ein bisschen mehr. Natürlich geht es nicht darum auf Biegen und Brechen anders zu sein. Ich bin in vielen, vielen Dingen „angepasst“ und entspreche der Norm. Das ist nicht das Problem. Wichtig ist einfach, dann abzuweichen, wenn die Norm nicht passt, und selbst Abweichungen von der Norm anderer mit mehr Interesse, statt mit Ablehnung zu begegnen.

Noch ein kurzer Gedanke zum Thema „Enttäuschung“. Enttäuschungen kann man auch wirklich positiv sehen. Denn eine Person, die enttäuscht ist, ist ent-täuscht. Das heißt, sie war einer Täuschung aufgesessen und ist jetzt der Wahrheit näher. Das ist doch ein Fortschritt! Zum Beispiel enttäuscht du vielleicht einmal deine Eltern, deine beste Freundin, deinen Kollegen, etc. Aber was passiert dann genau? Du zeigst ihnen eigentlich, dass sie ein falsches Bild deiner Person haben. Sie dachten, du würdest dieses oder jenes tun, bzw. so oder so sein, und nun zeigst du ihnen, dass sie falsch lagen. Sie sind ent-täuscht. Wenn sie es jetzt verstehen, können sie aufhören, beleidigt zu sein und stattdessen ihr Bild über dich ein bisschen gerader rücken.

Und was ich schon zwischendurch angesprochen habe ist die Tatsache, dass ganz oft ein Abweichen erst von anderen zum Problem gemacht wird. Weil es manchmal Leute zwingt ihr eigenes Handeln zu hinterfragen, was nicht immer schön ist. Oder weil sie sich abgelehnt fühlen. Oder weil sie etwas schlicht nicht nachvollziehen können, zum Beispiel, wenn sie etwas nicht aus eigener Erfahrung kennen. Oder weil sie sich Sorgen machen, oder sie sich bedroht fühlen, wenn etwas neu und somit eventuell unberechenbar wird. Manchmal hilft es, dem anderen zu erklären, dass das eigene Verhalten nicht als Ablehnung ihrer Person zu verstehen ist, sondern einfach Ausdruck der eigenen Bedürfnisse, die zu respektieren sind. Manchmal hilft es zu reden. Manchmal auch nicht. Aber man sollte im Hinterkopf behalten, dass man eventuell selbst gar nicht das Problem ist, sondern die anderen. Aber auch, und ich glaube, da kann sich wahrscheinlich jeder an die eigenen Nase fassen, dass man eben selbst auch manchmal ein Problem macht, das es nicht gäbe, wenn wir andere so akzeptieren würden, wie sie sind, und nicht, wie wir sie gerne hätten. Und wenn wir einmal damit anfangen, andere zu akzeptieren und zu respektieren und sie nicht abzustrafen, werden wir selbst vielleicht auch öfter akzeptiert und respektiert und weniger abgestraft. Ich finde diese Frage sollte öfter gestellt werden „Ist dies wirklich ein Problem, oder wird es zu einem Problem gemacht?“ Denn wenn die andere Person versteht, dass es vielleicht gar kein echtes Problem gibt, lohnt sich die ganze Aufregung gar nicht, und die Energie kann in sinnvolle Zwecke investiert werden. Davon profitiert auch die Person, die sich sonst aufgeregt hätte.

Was nehme ich für die Erziehung meiner Kinder mit?

Was wäre ich für eine Mutter, wenn ich meine Erkenntnisse und Einsichten nicht in die Erziehung meiner Kinder einfließen lassen würde? 😉 Meine Kinder dürfen anders sein, Dinge anders machen und ihren eigenen Weg gehen. Ich habe zwar ein Bild in meinem Kopf darüber, wie meine Kinder in der Zukunft wahrscheinlich sein werden, aber ich muss mir immer vergegenwärtigen, dass dies nur ein Bild, eine Phantasie ist, und meine Kinder diesem Bild niemals entsprechen müssen. Stattdessen muss ich verstehen, wer sie wirklich sind, was ihnen gefällt, was sie antreibt, wer sie sein möchten, usw. Und gut aufpassen, dass ich nicht versuche sie meinem Bild entsprechend zu formen, sondern ihnen stattdessen allen Freiraum zu geben, um sich zu entfalten. Ich forme ihre Persönlichkeit nicht, ich darf sie entdecken. Dazu gehört sie ernst zu nehmen und ihre Meinung zu respektieren, und sie nicht zu ignorieren, nur weil sie Kinder sind. Kinder müssen erfahren, dass es in Ordnung ist, etwas nicht zu wollen, und dass ihr „Nein“ respektiert wird. Wie sonst sollen sie lernen, ihre Bedürfnisse ernst zu nehmen und zu ihrem „Nein“ zu stehen, statt sich von anderen bedrängen zu lassen, wenn sie als Kinder erfahren, dass ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht zählen? Mein Bruder hat als kleines Kind meine Oma einmal geschlagen, als sie ihn umarmen wollte und sein „Nein“ einfach ignorierte. Meine Oma ging dann wütend zu meinen Eltern und forderte, dass er sich bei ihr entschuldigte, doch meine Eltern taten das einzig Richtige: Sie erklärten, dass mein Bruder sich nicht anders hatte zu wehren wissen, und sie das nächste Mal auf sein „Nein“ zu hören und ihn in Ruhe zu lassen habe. BAM! 😀 Genau darum geht es: Den Kindern von Anfang an zu zeigen, dass sie nicht gefallen müssen, dass sie nicht angepasst und brav sein müssen, sondern ihre eigenen Bedürfnisse wichtig sind. Nicht wichtiger als die der anderen, aber genauso wichtig. Und wenn sich jemand über ihr „Nein“ hinwegsetzt, dürfen – sollten – sich zu wehren. Als Erwachsene stehen uns zum Glück meistens andere Möglichkeiten als Schlagen und Treten zur Verfügung. Wenn meine Kinder nicht kuscheln oder ausgekitzelt werden möchte, lasse ich sie sofort los und warte geduldig ab, bis sie von sich aus kommen um zu kuscheln oder ausgekitzelt zu werden. Ich sage ihnen aber auch, wenn ich gerade esse und dabei kein Kind auf dem Schoß haben möchte.

Wenn meine Kinder sich nicht in eine Geschlechterrolle pressen lassen wollen, sondern einfach tun und machen wollen, was ihnen gefällt, egal ob es momentan als ein „mädchending“ oder ein „jungending“ klassifiziert wird, dann werde ich versuchen, ihnen den Rücken zu stärken und die möglichen negativen Reaktionen mit ihnen zusammen richtig einzuordnen: als Engstirnigkeit der anderen. Zudem werde ich versuchen, diejenigen, die sich abwertend äußern, eine andere Sichtweise aufzuzeigen. Wenn man eine Meinung vertritt, heißt das ja nicht, dass sich diese Meinung nicht ändern kann. Schließlich sind wir alle „Opfer“ unserer Erziehung. Ich habe selbst viele Ideen und Meinungen erst anpassen können, nachdem andere sich die Zeit genommen haben, um mich auf Fehler hinzuweisen und mir ihre Sichtweise verständlich zu machen. Eine negative Haltung bedeutet nicht immer, dass die Person unfähig ist, umzudenken, sondern manchmal nur, dass sie sich mit einem Thema noch nicht richtig auseinander gesetzt hat, oder ihr Informationen fehlen.

Es gibt solche Kinder, die lieben Trubel und viele Menschen um sich rum, und jene, die wollen viel alleine sein. Auch bei Kindern sehen ich das: die einen rennen begeistert jedem Neuen entgegen, die anderen schauen erst einmal in Ruhe und laufen später hinterher. Das braucht man nicht zu bewerten. Und man braucht seine Kinder auch nicht anzuhalten, so oder so zu sein. Stattdessen sollte man sie einfach sie selbst sein lassen und sie dabei unterstützen heraus zu finden, was ihnen gut tut und wie viel Stimulierung sie brauchen. Sollten meine Kinder sich „anders“ verhalten, als andere Kinder, werde ich mich extra bemühen, ihnen nicht das Gefühl zu vermitteln, dass sie falsch sind und sie sich ändern müssen um der Mehrheit zu entsprechen. Wenn man nicht in ein System passt, kann es auch sein, dass das System einfach nicht gut ist 😉 Zum Beispiel Autismus. Erst nachdem es eine Bezeichnung, eine Diagnose gab, konnten Menschen mit Autismus besser verstanden und akzeptiert werden. Diagnosen haben natürlich teilweise wirklich Vorteile, weil man dann manchmal besser versteht, wie man einer Person helfen kann, sich zurecht zu finden. Manchmal sind Diagnosen absolut wichtig! Das Problem, was ich allerdings sehe ist, dass man oft erst eine Diagnose braucht, bevor das anders-sein akzeptiert wird. Ich finde, statt dass man sagen muss „Ich kann nicht anders, ich habe …, oder ich bin ein …“ sollte „Ich kann nicht anders, ich bin so, oder ich brauche das“ auch schon reichen, völlig losgelöst von einer Diagnose. Wie oft googlet man etwas und stellt erleichtert fest, dass das, was man selbst erlebt sogar eine Bezeichnung hat und es (vielen) andere Menschen genauso ergeht. Es hilft, es benennen zu können. Aber es sollte nicht erst „legitim“ werden, wenn es eine offizielle Bezeichnung gibt. Man sollte nicht das Gefühl haben müssen, man sei falsch, weil man so empfindet, wie man empfindet, bis es eine Diagnose gibt, die es rechtfertigt oder erklärt. Sollten meine Kinder also mal in irgendeiner Weise abweichen, ohne dass es dafür einen Term gibt, und es sie in ihrem Leben nicht einschränkt (sonst müsste man natürlich handeln), sondern nur etwas anders ist, hoffe ich, dass ich ihnen die Gewissheit geben kann, dass sie in Ordnung sind, so wie sie sind.

Zum Schluss

Wir leben in einer ungerechten Welt und es gibt viel zu tun. Ein Einzelner kann zwar nicht die ganze Welt retten, aber wenn jeder etwas tut, kommen wir immerhin weiter, als wenn wir es nicht einmal versuchen. Und dazu gehört manchmal unbequem zu sein. Nicht nur, um seine persönlichen Interessen zu verfolgen, sondern auch, um für diejenigen den Weg zu ebnen, die es selbst (noch) nicht können, oder sich (noch) nicht trauen. Manchmal ist der Gegenwind nur leichter Spott oder Unverständnis, manchmal sind die Reaktionen gravierend und sogar lebensgefährlich. Ich habe überlegt, ob ich nur über die kleinen, persönlichen Themen (zB kein Alkohol, Kleidung) schreiben soll, oder nur über die großen (zB. Homosexualität), denn beides nebeneinander zu stellen, kam mir seltsam vor. Homosexuelle, vor allem die ersten, die sich geoutet haben, waren oft massiver Gewalt ausgesetzt. Mein ledigliches genervt-sein, wenn Leute versuchten mich zum Alkohol trinken zu bewegen, wirkt dagegen völlig nichtig. Aber es war relativ einfach für mich, weil andere vor mir mir den Weg geebnet haben. Und viele homosexuelle Menschen können heute einen fast normalen Alltag haben, weil andere vor ihnen Vorarbeit geleistet haben. Aber weil auch sie heute offen zeigen, wer sie sind, auch wenn es vielleicht nicht immer als Anstrengung wahrgenommen wird, ebnen sie wiederum für andere den Weg, für die es wohl schwierig ist, ihr anders-sein zu zeigen.

Wir sind alle größtenteils gleich. Uns verbindet viel mehr, als was uns unterscheidet. Aber die Unterschiede dürfen und sollten ruhig gezeigt werden. Denn wenn anders als spannend und nicht als gefährlich wahrgenommen wird, können wir aufhören, uns zu verstecken, uns zu schämen, und so zu tun, als seien wir jemand, der wir nicht sind. Ich denke jeder hat etwas, was er nicht öffentlich zeigen möchte, über das er sich vielleicht nur mit den allerengsten Freunden, wenn überhaupt, zu sprechen traut. Ich finde das schade. Denn ich bin überzeugt, dass das Allermeiste, von dem wir annehmen, dass es nur uns selbst betrifft, und wir the odd one out sind, wahrscheinlich sehr vielen so ergeht, und wir alle versuchen ein Bild aufrechtzuerhalten, was falsch ist, nur um nicht als seltsam, als merkwürdig, als falsch wahrgenommen zu werden. Wenn du also feststellen solltest, dass dein Weg vom Mehrheitsweg abweicht, auch wenn es nur eine kleine Abweichung ist, die dir aber wichtig ist, dann ja, würde ich dir empfehlen, diesen Weg einzuschlagen und zu sehen, wohin er führt.

Deine RE

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