Als soziale Tiere, die wir sind, ist es verständlich, dass wir nicht unangenehm auffallen und von anderen akzeptiert werden möchten. Das setzt für gewöhnlich voraus, dass wir nicht zu anders sind. Je nach sozialer Gruppe kann der Druck sich anzupassen leicht oder enorm sein, und wird bei Missachtung unter Umständen mit Ausschluss bestraft. Anders zu sein, beziehungsweise Dinge anders zu tun, ist eigentlich immer mit Anstrengung verbunden: Oft wird man dazu aufgefordert (genötigt) sich zu erklären und zu rechtfertigen; man muss Kritik, Hohn und Ablehnung aushalten; und auch das Aneignen und die Implementation neuen Wissens ist erst einmal mit Zeit- und Energieaufwand verbunden. Dennoch sehe ich drei gute Gründe, um dann und wann von der Norm oder den Erwartungen anderer abzuweichen, die es der Mühe wert sind:

1. Authentischer und somit glücklicher sein

Wir werden regelmäßig mit Erwartungshaltungen anderer konfrontiert, die nicht mit unseren eigenen Bedürfnissen übereinstimmen. In solchen Fällen müssen wir eine Wahl treffen: uns entweder nach den Erwartungen anderer richten, oder nach dem, was wir selbst möchten oder brauchen. Vergangene Erfahrungen haben mir immer wieder deutlich demonstriert, dass ein Verbiegen vielleicht jemand anderes zufrieden stellt, einen selbst aber nicht, und es sehr befriedigend ist, stattdessen dem eigenen Weg zu folgen. Wenn wir authentisch sind, authentisch sein dürfen, führen wir glücklichere Leben.

Beispiel Kleiderordnung

Hier könnte ich Unmengen Beispiele bringen, aber ich werde mich auf zwei beschränken, die wahrscheinlich den Kerngedanken verdeutlichen: 1) Zu meinem Abiball trug ich eine weiße Sommerhose und ein ganz normales, schwarzes Top. Das kam nicht bei jedem toll an. Mir wurde unterstellt, dass ich es nur täte, um es anders zu machen, als die anderen. Dem war nicht so. Die Idee, mir ein feines Kleid anzuziehen, die Haare bei einem Friseur frisieren zu lassen und mich dick zu schminken, nur weil es so erwartet wird, war und ist mir einfach unangenehm. Für ein Kleid, das ich wahrscheinlich nur einmal anziehe, so viel Geld auszugeben erschien mir zudem idiotisch (ist es auch!). Ein Ballkleid zu tragen mochte der Traum meiner Mitschülerinnen gewesen sein, meiner war es eindeutig nicht und hätte ich eines angezogen, dann nur, um den Erwartungen anderer zu entsprechen, und nicht, weil es mir selbst gefiel. Ich habe es also nicht getan, weil die Meinung der anderen mir nicht wichtiger war, als authentisch zu bleiben und mich wohl zu fühlen. 2) Ich habe mir irgendwann Zehen-Barfußschuhe bestellt, weil ich gerne barfuß laufe, und mit großer Freude feststellte, dass es Schuhe gab, die es mir ermöglichten, auch draußen „wie barfuß“ zu laufen. Meine Reaktion auf den Kommentar „Die willst du doch aber nicht wirklich in der Öffentlichkeit tragen“ war „Doch, na klar, das ist ja Sinn und Zweck der Schuhe, im Haus laufe ich ja bereits barfuß.“ Die erste Zeit war seltsam, zum einen, weil meine Füße sich an die Schuhe gewöhnen mussten, aber auch, weil mein Umfeld diese Schuhe noch nicht kannte und Blicke und Kommentare, aber auch viele Interessensfragen dazu gehörten. Das ist auch ganz natürlich. Ich gucke auch, wenn etwas neu ist, das signalisiert keine Ablehnung. Es wurden aber auch Witze gerissen. Die Schuhe wurden oft lächerlich gemacht. Affenfuß und so… Aber ich stellte fest, dass ich in den Schuhen gerne lief, und nicht zu den alten zurück wollte. Ein Einknicken hätte also bedeutet, dass ich mich einer Kleiderordnung unterwerfe, die mir nicht gut tut, nur weil irgendwer findet, ich sollte andere Schuhe tragen, wobei meine Schuhwahl überhaupt keine negativen Konsequenzen für die andere Person bedeutete. Wieder war es so: Die Meinung anderer war mir nicht wichtiger, als authentisch zu bleiben und mich wohl zu fühlen. Und irgendwann hatten sich alle dran gewöhnt und die Schuhe waren kein Thema mehr. Besser noch, irgendwann liefen wir schon zu dritt mit Barfußschuhen über den Flur…

Beispiel Ich kann heute doch nicht

Wenn man eine Verabredung hat, aber eigentlich gerade lieber etwas anderes tun möchte, oder einfach im Moment keine Lust auf das Treffen hat, hat man ein Problem. Entweder man geht doch zu dem Treffen und macht irgendwie das Beste draus, oder man sagt ab. Wenn man absagt, noch dazu kurzfristig, gebietet es in der Regel das Gebot der Höflichkeit, sich zu erklären. Dann bewegt man sich schon mal auf einem schmalen Grat zwischen möglicherweise kränkender Wahrheit und netter Lüge, wenn man versucht, einen guten Grund zu nennen, denn „keine Lust“ oder „geht dich nichts an“ oder „will ich jetzt nicht erklären“ sind meist keine anerkannten Gründe. Dann ist es manchmal kurzfristig gesehen doch leichter, einfach hinzugehen, auch wenn man nicht authentisch ist. Meine Schwester hat dieses komplexe Problem ärgerlich-elegant gelöst. Sie sagt ab, ohne einen Grund zu nennen. Ich muss zugeben, dass das zu Beginn schon sehr irritierend war, schließlich hatte ich mich drauf gefreut, sie zu sehen, und die kurzfristigen Absagen ohne Erklärung gaben mir erst einmal das Gefühl, dass ich ihr nicht wichtig genug war. Man ist es so gewohnt, dass eine andere Person einem erklärt, was ihr dazwischen gekommen ist, dass man glaubt, ein Recht auf eine Erklärung zu haben. Aus einer Erklärung hört man zudem heraus, ob der Person wirklich etwas dazwischen gekommen ist, oder ob es vielleicht doch etwas Persönliches ist, die Person einen also vielleicht gar nicht mag. Passieren Absagen öfter kapiert man es irgendwann, und unternimmt keine weiteren Versuche, den Kontakt aufrecht zu erhalten. Da ich aber bei meiner Schwester immer und immer wieder feststellte, dass sie sich um mich bemühte, ihr also der Kontakt sehr wohl wichtig wahr, konnte es das nicht sein. Und irgendwann fing ich an ihre erklärungsfreien Absagen ziemlich cool, sogar bewundernswert, zu finden. Ich musste mich wohl erst daran gewöhnen, dass geplante Treffen immer wieder platzten, und sie irgendwann auch einfach nur sagte „Mh, ja vielleicht, wenn es an dem Tag gerade passt.“ Ich musste umdenken, aber wenn man das einmal geschafft hat, ist es völlig in Ordnung. Ich weiß, dass sie ihre Gründe hat, es so zu tun. Ich kann sie nicht komplett nachvollziehen, aber das ist auch nicht wichtig. Sie macht es so, und ich kann mich entweder darüber ärgern oder einfach akzeptieren, dass sie es so macht, wie es für sie richtig ist. Ich will ja auch gar nicht, dass sie sich mit mir trifft, nur weil sie sich dazu verpflichtet fühlt. Ich möchte mich mit ihr treffen, wenn es uns beiden passt, wenn wir beide Bock haben, und nicht, weil das Treffen halt geplant ist und man nicht absagen kann. Es liegt auch in meiner Verantwortung selbstständig Alternativen zu finden, wenn ein Treffen nicht hinhaut. Ich plane jetzt keine Treffen mehr mit meiner Schwester, aber wir geben uns gegenseitig kurzfristig an, wenn wir Zeit haben. Wenn es passt, prima, wenn nicht, dann nicht. Mein Punkt ist, anders-handeln muss nicht zum Problem werden, wenn die Gegenseite (in diesem Fall bin ich das) ein bisschen Anpassungswillen und Verständnis zeigt, statt auf einem festgelegten Kodex zu beharren. Und wenn mir etwas dazwischen kommt oder ich keine Lust habe und etwas anderes tun möchte, reicht auch ein kurzes „Geht heute nicht“, und gut ist. Keine verletzten Gefühle, kein gekränktes Ego, aber auch keine Lügen und Ausflüchte, sondern einfach mehr Authentizität. Und Treffen, die dann wohl stattfinden, sind umso schöner, weil wir wissen, dass wir beide wirklich Bock haben. Der Grund „Ich möchte einfach nicht“, sollte als guter Grund akzeptiert und respektiert werden. Manchmal ist es schon nicht leicht herauszufinden, was einem gerade gut tut und was man braucht, aber wenn das klar ist, dann sollten Menschen darin unterstützt werden, die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen, und nicht durch etwaiges Einreden von Schuldgefühlen oder Androhung von Verärgerung dazu genötigt werden, ihre eigenen Bedürfnisse zu ignorieren. Wenn wir das alle mehr täten, bin ich mir sicher, würden wir alle insgesamt glücklichere Leben führen. Im Zweifelsfall kann man der anderen Person auch eben sagen, dass man nicht mehr dem Kodex entsprechend absagt, dies aber kein Anzeichen von Ablehnung ist, nur um Missverständnissen vorzubeugen… 😉

2. Anderen den Weg ebnen

Wenn wir Dinge anders machen, weil es zum Beispiel eher unserer Natur entspricht, machen wir nicht nur uns selbst das Leben langfristig einfacher/schöner, wir erleichtern es zudem auch anderen, von der Norm abzuweichen. Ich hatte gute Vorbilder in meiner Kindheit und Jugend, die mir zum einen Alternativen aufwiesen und mir zugleich zeigten, dass abzuweichen keine dramatischen, negativen Konsequenzen hat (meistens jedenfalls). Die Tatsache, dass es diese Vorbilder gab, inspirierte mich dazu mir immer wieder die Fragen zu stellen „Will ich das eigentlich?“ und „Was will ich selbst?“ Und wenn nötig einfach „Nein“ zu sagen und mich nicht von Druck oder negativen Reaktionen beirren zu lassen. Vorbilder zu haben ist wichtig, denn „Seeing is believing!“ Wenn du siehst, dass andere es auch machen, dann ist die Hürde nicht so groß es selbst zu probieren. Und wenn du selbst dann von der Norm abweichst, wenn es dir sinnvoll und richtig erscheint, dann kannst du für jemand anderes zu einem Vorbild werden.

Beispiel Alkohol

Meine Mutter hat nie Alkohol getrunken. Wer das genauso macht, oder ab und an mal in einer Gruppe dem Alkohol entsagt, wird wissen, dass das nicht immer so einfach hingenommen wird, wie es hingenommen werden sollte. Da meine Mutter aber schon einmal nicht trank, konnte ich sehen, dass das eine Option war. Ich hatte eine Wahl, und Alkohol zu trinken war kein „muss“, wie es oft genug den Anschein hat. Ich wurde auch regelmäßig nach den Gründen gefragt, warum ich keinen Alkohol trank. Zum Beispiel wurde ich gefragt, ob ich trockene Alkoholikerin sei, ob ich irgendeiner Religion folgte, die Alkohol ablehnte, ob ich schwanger sei, usw. Indirekt schwang immer die Frage mit „Was stimmt nicht mit dir?“ Es gab auch immer irgendwelche Fremden (es waren nie Freunde), die es nicht zu verkraften schienen, dass es jemanden gab, der nüchtern blieb, und mich durch gutes Zureden, aber auch genervt sein und Verärgerung davon zu überzeugen versuchten, es doch einmal zu probieren. Jeder Überredungsversuch und jedes Drängen blieben ergebnislos und irgendwann gaben sie (manchmal sehr schlecht gelaunt) auf. Im Vergleich zu dem, was meine Mutter erlebte, in einem Dorf wohnend, in dem Alkohol reichlich und regelmäßig floss, waren meine Erlebnisse von relativ harmloser Natur. Ich hatte oft das Gefühl, dass meine Mutter dadurch, dass sie ihre Kämpfe ausgefochten hat, es mir – eine Generation später – erleichtert hat, meine zu bestreiten, denn ich denke, dass der Verzicht auf Alkohol inzwischen schon eher als „normal“ akzeptiert wird, als zu ihren (Jugend-)Zeiten. Aber dazu mussten erst Leute, wie meine Mutter, anders handeln, um das anders normaler zu machen. Außerdem stärkte mir das Wissen, dass meine Mutter sich nicht hatte beirren lassen, den Rücken, um dem Drängen nicht nachzugeben.

Beispiel Homosexualität

Dass heutzutage gleichgeschlechtliche Paare in einigen – aber bei weitem nicht allen Ländern – ihre Beziehung öffentlich zeigen können, ohne ständig mit Anfeindungen und Gewalt rechnen zu müssen (obwohl auch das noch weiterhin leider viel zu oft geschieht), ist jenen Menschen zu verdanken, die in der Vergangenheit ihr „Anders als die Mehrheitsgesellschaft“ öffentlich gezeigt haben, und die negativen Reaktionen ausgehalten haben, statt sich zu verstecken oder ihr anders-sein zu verleugnen. Auch die Menschen, die sich heute „outen“ tragen dazu bei, das anders-sein normaler zu machen und Akzeptanz und Gleichberechtigung näher zu kommen. Ich hoffe, dass ein „outen“ irgendwann nicht mehr nötig sein wird, weil es wirklich egal sein wird, ob man hetero- bi- homo- a- etc- sexuell ist, aber im Moment ist es wichtig, der Mehrheit zu zeigen, dass Abweichungen von der Norm keine Krankheit, und mit Sicherheit nicht gefährlich sind, und nur dann zum Problem werden, wenn andere sie zu einem Problem machen. Und es ist wichtig um jenen, die merken, dass sie anders sind, zu zeigen, dass sie nicht alleine sind, vielleicht auch gerade in jenen Ländern, in denen Homosexualität ein Tabu ist und mit Scham und Angst behaftet ist, in denen Menschen aber via socialmedia Vorbilder und Akzeptanz finden können.

3. Fortschritt einleiten

Wenn wir alle immer nur täten, was alle anderen tun, würden wir alle zusammen auf der Stelle treten und nicht voran kommen. Es gibt aber so viel Verbesserungsspielraum, auf allen möglichen Gebieten, wir können es uns gar nicht leisten, nicht nach Alternativen zu suchen. Nicht jede Alternative ist besser, aber manchmal braucht es eine Versuch-und-Irrtum Herangehensweise, um letztendlich Fortschritte zu machen. Es braucht Menschen, die sich ab und an einmal quer stellen und Denk- und Verhaltensmuster in Frage stellen. Dies schafft wieder mehr Raum für andere Möglichkeiten, die womöglich mehr Menschen gerecht werden und auch dem Zeitgeist entsprechen.

Beispiel Veganismus

Nicht die Tatsache, dass ich etwas esse, sondern die Tatsache, dass ich etwas nicht esse, hat schon zu so mancher Diskussion geführt. An manchen Konflikten war ich aktiv beteiligt, indem ich auf Konfrontationskurs gegangen bin, aber hier bespreche ich nur jene, bei der schon allein das anders-sein zu einem Problem gemacht wurde. Ich wurde als naiv dargestellt „Nur weil du jetzt aufhörst, Fleisch zu essen, rettest du damit nicht die Welt“. Das Leid anderer Lebewesen wurde als unwichtig dargestellt „Kümmere dich doch erst einmal um die wirklich wichtigen Probleme“ (als müssten Probleme seriell statt parallel gelöst werden). Es wurde wieder unterstellt, dass ich mich selbst damit wichtig machen wollte „Das machst du nur, um anders zu sein.“ Es wurde versucht zu provozieren „Guck mal, ich esse jetzt gaaanz viel Fleisch!“ Ich wurde als Hippie dargestellt. Ich wurde darauf hingewiesen, wie ungesund all dieser vegane Kram doch sei (Fleisch ist ja bekanntermaßen sehr gesund…). Es wurde immer wieder versucht zu zeigen, dass ich falsch liege und mal bitte nicht so radikal sein solle. Das Wort radikal wurde oft genannt, als wäre ich eine schwer bewaffnete Widerstandskämpferin, die mit aller Härte und rücksichtslos kämpft, und nicht einfach eine Person, die nur einen Teil dessen, was sie sonst gegessen hat, nicht mehr isst. Irgendwann haben Menschen damit angefangen, die Haltung und Ausbeutung der Tiere zu hinterfragen, und ihre Konsequenzen zu ziehen. Als ich damit anfing, Ende 2010, konnte ich bereits auf Wissen zurückgreifen, das andere aufgetan und geteilt haben, und das mir eine Umstellung immens erleichtert hat. Das Angebot für Veganer hat sich in den Jahren seitdem immens gesteigert und Veganismus wird nicht mehr als Hype betrachtet, sondern ernst genommen. Inzwischen merke ich, dass nicht ich mich erklären muss, sondern die nicht-Veganer anfangen, sich zu rechtfertigen. Es fängt immer mit Einzelpersonen an, die kritisch auf die gegenwärtige Situation blicken und Wege finden, Dinge zu verbessern, die Welt für alle gerechter zu gestalten, vor allem für jene, die sich selbst nicht helfen können und die ausgeliefert sind. Und wenn die, die es aushalten können, nicht einknicken, wenn sie lächerlich gemacht und angefeindet werden, kann aus Einzelnen eine Bewegung werden, die die Verhältnisse zum Besseren verändert.

Beispiel Frauenwahlrecht

Dieses Thema bedarf eines eigenen Artikels, und ich werde es hier nur kurz – und im Kontext des Themas dieses Artikels anreißen: Jene Frauen, die für alle nachfolgenden Generationen für das Wahlrecht kämpften, waren anders. Sie haben die Ungerechtigkeit nicht nur erkannt, sie haben sich zusammen getan und ganz „unweiblich“ dafür gekämpft, die gleichen Rechte zu haben, wie Männer. Sie haben sich also nicht an der Erwartungshaltung orientiert, die sie in eine fixe Rolle zu pressen versuchte (sei lieb, störe nicht, sei nicht schwierig, kenne deinen Platz, überlass es den Männern, wichtige Entscheidungen zu treffen und kümmere du dich ums Haus), sondern sind ihren eigenen Wegen gefolgt. Und nur so kann Fortschritt überhaupt erst entstehen! Wir dürfen uns nicht an ungerechte Verhältnisse anpassen, nicht Ungerechtigkeit akzeptieren, sondern müssen sie erkennen und Rechte einfordern und erkämpfen. Für uns selbst, aber auch für andere, die es vielleicht nicht können. Auch wenn wir beschimpft, angefeindet, ja sogar bedroht werden, denn unsere Freiheiten und Rechte, die wir heute genießen, wurden von jenen erkämpft, die vor uns kamen, und nachfolgende Generationen werden von den Freiheiten und Rechten profitieren, die wir uns und ihnen erkämpfen.

Woher weiß ich, was ich selbst will?

Herauszufinden, was man eigentlich selbst wirklich möchte, ist manchmal gar nicht so leicht. Mir hilft es, mir selbst die folgenden Fragen zu stellen: Was würde ich tun, wenn ich ganz allein auf diesem Planeten wäre? Alles wäre wie jetzt, nur die anderen Menschen, und damit der soziale Druck, wären plötzlich weg. Würde ich Alkohol trinken? Nein! Würde ich auf hochhackigen Schuhen herumlaufen? Nein! Würde ich mich in giftigen Rauch stellen? Nein! Würde ich zwar schicke, aber unpraktische Kleidung tragen? Nein! Würde ich mich schminken? Nein! Aber auch: Würde ich im Park Yoga machen? Ja! Würde ich allein ins Kino oder zu anderen Veranstaltungen, die mich interessieren, gehen? Klar! (müsste ich ja dann… 😉 ). Würde ich beim Spazierengehen singen? Bestimmt ab und an. Würde ich manchmal einfach laut schreien? Auf jeden Fall! Natürlich eignen sich nicht alle Antworten dafür, in einer Welt mit anderen Menschen umgesetzt zu werden, da muss man schon unterscheiden ;). Es geht erst einmal darum herauszufinden, was man selbst möchte, und das testet man dann auf Durchführbarkeit in der realen Welt. Ich möchte andere Menschen durch mein Handeln nicht in ihren Freiheiten beschneiden, aber wenn es nur um Enttäuschungen unrealistischer Erwartungen, selbstverschuldete Verärgerung oder Unverständnis geht, sind mir meine Bedürfnisse wichtiger.

Die zweite Frage, die ich mir stelle ist: Wenn ich alt bin und kurz davor zu sterben, und dann auf mein Leben zurück blicke, werde ich es bereuen dieses oder jenes getan, bzw. nicht getan zu haben? Werde ich sagen können „Ich habe mein Leben gut gelebt!“ oder werde ich denken „Ich habe zu sehr ein Leben gelebt, dass gar nicht mein eigenes war.“? Ich habe mich zum Beispiel bewusst dazu entschieden, die erste Zeit mit meinen Kindern zu verbringen, und sie nicht mit knapp 3 Monaten abzugeben um wieder arbeiten zu gehen (Ich lebe in den Niederlanden, da ist das möglich). Ich weiß, dass es finanziell gesehen keine gute Entscheidung für mich war. Während mein Partner arbeitet und befördert wird und in seine Rentenkasse einzahlt, verpasse ich all das. Und sollten wir uns trennen, oder er sterben, stünde ich auch erst einmal finanziell schlecht da, während er – wenn wir uns nur trennen und er also noch lebt – finanziell perfekt dasteht. Ich weiß all das, aber ich finde einfach, dass beide Optionen scheiße sind! Denn die andere Option wäre gewesen, meine winzigen Babys an eine wildfremde Person abzugeben, ständig Milch abpumpen zu müssen, die meinem Kind dann über die Flasche gegeben würde, und sie nur morgens und abends zu sehen. Und obwohl ich es großartig finde, dass es das Angebot gibt, wollte ich keinen Gebrauch davon machen, weil ich eben bei meinen Kindern sein wollte. Meine Frage „Was würdest du über dein Leben denken, wenn du deine Kinder so früh abgegeben hättest um arbeiten gehen zu können?“ habe ich beantwortet mit „Ich würde denken, dass ich fremdgesteuert war, denn meine Kinder abzugeben wäre nicht aus einem Wunsch, noch einer Notwendigkeit heraus, sondern aufgrund von sozialem Druck oder finanziellen Überlegungen heraus geschehen, und hätte im Widerspruch zu meinem eigenen Bedürfnis gestanden, diese kostbare Zeit mit meinen Kindern verbringen zu dürfen.“ Wäre der Kontext anders gewesen, zB. wenn ich mir das Stillen mit meinem Mann hätte teilen können, oder wir die Kinder bei jemandem hätten lassen können, dem wir vertrauten, oder meine Arbeitsstelle hätte eine Betreuung angeboten, die es mir erlaubt hätte meine Kinder zwischendurch zu sehen, hätte ich das anders lösen können.

Vorbilder: Wenn du bei jemand anderem etwas siehst, das dir gut gefällt, dann kann auch das dir darüber Aufschluss geben, was du dir für dich selbst wünschst.

Grundüberzeugungen: Was sind die Dinge, an die du glaubst? Bei der Nichtbeachtung welches Prinzips fühlst du dich schlecht? Bei mir sind Gerechtigkeit, Gesundheit, und Authentizität zum Beispiel Kernpunkte, die mein Denken und mein Handeln beeinflussen. Und das Wissen darüber, dass dies Kernpunkte sind, hilft mir dabei (oft, nicht immer) sicher und angemessen zu reagieren, wenn sie in irgendeiner Form bedroht oder missachtet werden. Zum Beispiel einzuschreiten, wenn jemand gemobbt wird, mich in einer Pause von Leuten zu distanzieren, wenn sie anfangen zu rauchen, oder nicht zu sozialen Veranstaltungen zu gehen, die mir keinen Spaß machen.

Innerlich seufzen: Ein großes Familientreffen wird geplant – seufz. Einladungskarten müssen verschickt werden – seufz. Die Rechnung soll zu gleichen Teilen durch alle Anwesenden gezahlt werden und man hat selbst nur Wasser getrunken – seufz . Wenn man geheiratet hat, trägt man einen Ehering – seufz. Komm, lass uns in die laute Bar mit ganz vielen, lauten und teilweise angetrunkenen Menschen gehen, wo wir uns eh nicht wirklich unterhalten können, aber immerhin etwas unternehmen – seufz. Das innere Seufzen zeigt mir ganz gut an, wenn etwas erwartet wird, was ich selbst gar nicht möchte. Und wenn ich anfange zu überlegen, wie ich aus der Nummer vielleicht doch noch raus komme, ist es eindeutig. Daher gehe ich nicht zu einem Familientreffen mir unbekannter Verwandter; ich verschicke Einladungen via Email; ich bezahle nur, was ich selbst konsumiert habe; habe ohne Ring geheiratet; und treffe mich mit Freunden zuhause und spiele Brettspiele.

Wie gehe ich mit negativen Reaktionen um? Wie halte ich sie aus?

Im Nachfolgenden werde ich ein paar Punkte ansprechen, die es hoffentlich leichter machen negative Reaktionen richtig einzuordnen und sich nicht von ihnen beirren zu lassen. Dazu gehört vor allem zu verstehen, warum Menschen sich mitunter ablehnend verhalten. Da es aber auch möglich ist, dass negative Reaktionen berechtigt sind und man sein Handeln noch einmal überdenken sollte, können folgende Fragen dabei helfen das eigene Handeln und die Reaktionen zu prüfen.

Habe ich gute Gründe für mein Handeln?

Beschneide ich jemanden in seiner Freiheit?

Würde ich es jemand anderes übel nehmen, wenn er sich so verhielte, wie ich es tue?

Verrenne ich mich gerade in abstrusen Ideen und meine Mitmenschen wollen mich nur vor mir selbst schützen? (zB. Bin ich drauf und dran mich einer Gruppe anzuschließen, die glaubt das einzig wahre Wissen zu haben und sie lediglich absolute Zuwendung und all mein Geld wollen, und Menschen, die ich eigentlich mag, raten mir dazu meine Entscheidung doch bitte noch einmal zu überdenken?)

Beispiel: Mein damaliger Freund wollte mich seiner Mutter vorstellen. Sie war aber Raucherin. Ich erklärte, dass ich mich nur mit ihr treffen würde, wenn sie für die Dauer unseres Treffens nicht rauchen würde. Ihre Antwort war eindeutig: In ihrem Haus macht sie, was sie will. Das war also geklärt. Meine Mutter sprach sich dafür aus trotzdem hinzugehen. Ich war ziemlich überrascht! Wieso sollte ich mich in einen Raum mit einer rauchenden Person setzen? Das klang ziemlich idiotisch. Aber überprüfen wir kurz meine Haltung, nur um ganz sicher zu gehen. Habe ich gute Gründe? Absolut! Mir ist meine Gesundheit sehr wichtig, und ich sehe gar nicht ein jemanden zu erlauben meine Gesundheit durch sein blödes Verhalten zu gefährden. Beschneide ich jemanden in seiner Freiheit? Nein, denn die betroffene Person hatte eine Wahl, und sie hat sich fürs Rauchen entschieden. Würde ich es einer anderen Person übel nehmen, mich nicht zu treffen, weil ich ihre Gesundheit gefährde? Absolut nicht!Verrenne ich mich in abstrusen Ideen? Nein, der schädliche Effekt von passiv Rauchen ist eindeutig wissenschaftlich belegt. Ganz klar: meine Haltung war vernünftig und schadete niemandem. Etwaiger Druck, doch zu einem Treffen hinzugehen, war nur dem Kodex geschuldet, nicht schwierig zu sein. Meine Gesundheit gewinnt aber immer gegen „nicht schwierig sein“. Wir haben uns dann doch getroffen, einige Monate später, im Sommer, im Garten. Sie konnte rauchen und ich saß so, dass ich keinen Rauch abbekam. Und siehe da, ich war die erste Freundin, die sie gut leiden mochte.

Des Weiteren ist es wichtig zu wissen, dass negative Reaktionen oft mehr über die andere Person aussagen, als über einen selbst. Warum stört es jemand anderes, wenn ich keinen Alkohol trinke? Es könnte ihm doch egal sein! Vielleicht stört es ihn ja, dass es jemanden gibt, der bei Verstand bleibt und sieht, wie er sich verhält, wenn er getrunken hat. Und er glaubt in betrunkenem Zustand kein gutes Bild abzugeben. Vielleicht fürchtet er sich vor meiner Verurteilung. Würde ich trinken und genauso abstürzen, gäbe es niemanden, der urteilen dürfte. Er hat also nur ein Problem mit meiner Abstinenz, weil er nicht dazu stehen kann, was er selbst tut. Ist das mein Problem, oder seines? Genau, seines, das er versucht zu meinem zu machen. Wie oft habe ich zudem von anderen gehört, dass sie sich zwar damals abwertend über mein Verhalten geäußert haben, im Nachhinein jedoch festgestellt haben, dass ich es richtig gemacht habe, nur sie es zu der Zeit nicht erkannt haben oder eingestehen wollten. Eine ablehnende Haltung zeigt nicht per se an, ob das eigene Handeln falsch ist. Manchmal liegen einfach die anderen falsch.

Generell hilft es mir auch, dass ich eine eher geringe Meinung habe über die Mehrheitsgesellschaft (zu der ich natürlich selbst oft genug gehöre) habe. Es kommt mir oft so vor, als würde ihr/unser Handeln vor allem durch Gewohnheit und Eigennutz, und nicht durch gut überlegte Gründe bestimmt. Zudem ist sie nicht bereit, oder unglaublich träge darin, neue Erkenntnisse und Einsichten in zielführende Anpassungen zu verwandeln. Wenn Veränderungen Umstände bereiten, oder den eigenen Luxus beschneiden, wollen viele nichts von ihnen wissen, und zeigen sich ablehnend und verhöhnen solche, die wohl dazu bereit sind, gerne als Spinner. Auf die Meinung der Mehrheitsgesellschaft kann man also nicht immer viel geben. Die Meinung anderer erachte ich deswegen zwar nicht als unwichtig, denn ich brauche andere um mir gutes Feedback zu geben und mich auf Fehler hinzuweisen, aber die Meinung anderer ist nicht per se wichtiger, als meine eigene Meinung! Und wenn ich gut unterbaute Gründe habe um zu handeln, wie ich es tue, und jemand reagiert negativ, dann zweifle ich nicht automatisch an mir, sondern erst einmal an der anderen Person, und die andere Person muss mit guten Argumenten kommen, um mich von der Falschheit meiner Position zu überzeugen. Wenn lediglich Spott oder Unverständnis geäußert wird, hat das nicht viel zu bedeuten.

Manchmal befürchtet man anzuecken, und die Gunst der anderen mit seinem anders-sein zu verlieren. Aber oft ist es gerade das anders-sein, dass einen positiv heraushebt. Ich mag Menschen, die anders sind, weil sie zeigen, dass sie für das einstehen, was sie für richtig halten. Sie sind wohl eher keine Fähnchen im Wind und daher verlässlicher als solche, die einfach mit dem Strom schwimmen und nur machen, was andere machen, oder einem nach dem Mund reden. Wenn es einmal ernst wird habe ich lieber jemanden an meiner Seite, der ein bisschen anders ist, als jemand, der sich zu sehr nach der Meinung anderer richtet und der bei lauem Gegenwind umkippt.

Zwischendurch wurde mein „anders sein“ fast schon zum Sport. Ich habe auf alle möglichen Anfragen erst einfach mal „Nein“ geantwortet. Erst nein sagen und dann ja ist eh meistens einfacher als anders herum. Wenn man denn nein sagen kann… Aber fängt man erst einmal damit an, merkt man, dass das auch immer einfacher wird, je öfter man es tut. Die Leute gewöhnen sich dran, und man selbst auch. (Ist der Ruf erst ruiniert …. 😉 ). Bald fühlt sich das aus der Reihe tanzen nicht mehr wie eine große Sache, sondern ziemlich normal an. Und jedes Mal wird man in dem Wissen gestärkt, dass es sich i) gut anfühlt authentisch zu handeln ii) meistens die Reaktionen nicht dramatisch sind iii) man Gegenwind aushalten kann, und jedes Mal ein bisschen mehr. Natürlich geht es nicht darum auf Biegen und Brechen anders zu sein. Ich bin in vielen, vielen Dingen „angepasst“ und entspreche der Norm. Das ist nicht das Problem. Wichtig ist einfach, dann abzuweichen, wenn die Norm nicht passt, und selbst Abweichungen von der Norm anderer mit mehr Interesse, statt mit Ablehnung zu begegnen.

Noch ein kurzer Gedanke zum Thema „Enttäuschung“. Enttäuschungen kann man auch wirklich positiv sehen. Denn eine Person, die enttäuscht ist, ist ent-täuscht. Das heißt, sie war einer Täuschung aufgesessen und ist jetzt der Wahrheit näher. Das ist doch ein Fortschritt! Zum Beispiel enttäuscht du vielleicht einmal deine Eltern, deine beste Freundin, deinen Kollegen, etc. Aber was passiert dann genau? Du zeigst ihnen eigentlich, dass sie ein falsches Bild deiner Person haben. Sie dachten, du würdest dieses oder jenes tun, bzw. so oder so sein, und nun zeigst du ihnen, dass sie falsch lagen. Sie sind ent-täuscht. Wenn sie es jetzt verstehen, können sie aufhören, beleidigt zu sein und stattdessen ihr Bild über dich ein bisschen gerader rücken.

Und was ich schon zwischendurch angesprochen habe ist die Tatsache, dass ganz oft ein Abweichen erst von anderen zum Problem gemacht wird. Weil es manchmal Leute zwingt ihr eigenes Handeln zu hinterfragen, was nicht immer schön ist. Oder weil sie sich abgelehnt fühlen. Oder weil sie etwas schlicht nicht nachvollziehen können, zum Beispiel, wenn sie etwas nicht aus eigener Erfahrung kennen. Oder weil sie sich Sorgen machen, oder sie sich bedroht fühlen, wenn etwas neu und somit eventuell unberechenbar wird. Manchmal hilft es, dem anderen zu erklären, dass das eigene Verhalten nicht als Ablehnung ihrer Person zu verstehen ist, sondern einfach Ausdruck der eigenen Bedürfnisse, die zu respektieren sind. Manchmal hilft es zu reden. Manchmal auch nicht. Aber man sollte im Hinterkopf behalten, dass man eventuell selbst gar nicht das Problem ist, sondern die anderen. Aber auch, und ich glaube, da kann sich wahrscheinlich jeder an die eigenen Nase fassen, dass man eben selbst auch manchmal ein Problem macht, das es nicht gäbe, wenn wir andere so akzeptieren würden, wie sie sind, und nicht, wie wir sie gerne hätten. Und wenn wir einmal damit anfangen, andere zu akzeptieren und zu respektieren und sie nicht abzustrafen, werden wir selbst vielleicht auch öfter akzeptiert und respektiert und weniger abgestraft. Ich finde diese Frage sollte öfter gestellt werden „Ist dies wirklich ein Problem, oder wird es zu einem Problem gemacht?“ Denn wenn die andere Person versteht, dass es vielleicht gar kein echtes Problem gibt, lohnt sich die ganze Aufregung gar nicht, und die Energie kann in sinnvolle Zwecke investiert werden. Davon profitiert auch die Person, die sich sonst aufgeregt hätte.

Was nehme ich für die Erziehung meiner Kinder mit?

Was wäre ich für eine Mutter, wenn ich meine Erkenntnisse und Einsichten nicht in die Erziehung meiner Kinder einfließen lassen würde? 😉 Meine Kinder dürfen anders sein, Dinge anders machen und ihren eigenen Weg gehen. Ich habe zwar ein Bild in meinem Kopf darüber, wie meine Kinder in der Zukunft wahrscheinlich sein werden, aber ich muss mir immer vergegenwärtigen, dass dies nur ein Bild, eine Phantasie ist, und meine Kinder diesem Bild niemals entsprechen müssen. Stattdessen muss ich verstehen, wer sie wirklich sind, was ihnen gefällt, was sie antreibt, wer sie sein möchten, usw. Und gut aufpassen, dass ich nicht versuche sie meinem Bild entsprechend zu formen, sondern ihnen stattdessen allen Freiraum zu geben, um sich zu entfalten. Ich forme ihre Persönlichkeit nicht, ich darf sie entdecken. Dazu gehört sie ernst zu nehmen und ihre Meinung zu respektieren, und sie nicht zu ignorieren, nur weil sie Kinder sind. Kinder müssen erfahren, dass es in Ordnung ist, etwas nicht zu wollen, und dass ihr „Nein“ respektiert wird. Wie sonst sollen sie lernen, ihre Bedürfnisse ernst zu nehmen und zu ihrem „Nein“ zu stehen, statt sich von anderen bedrängen zu lassen, wenn sie als Kinder erfahren, dass ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht zählen? Mein Bruder hat als kleines Kind meine Oma einmal geschlagen, als sie ihn umarmen wollte und sein „Nein“ einfach ignorierte. Meine Oma ging dann wütend zu meinen Eltern und forderte, dass er sich bei ihr entschuldigte, doch meine Eltern taten das einzig Richtige: Sie erklärten, dass mein Bruder sich nicht anders hatte zu wehren wissen, und sie das nächste Mal auf sein „Nein“ zu hören und ihn in Ruhe zu lassen habe. BAM! 😀 Genau darum geht es: Den Kindern von Anfang an zu zeigen, dass sie nicht gefallen müssen, dass sie nicht angepasst und brav sein müssen, sondern ihre eigenen Bedürfnisse wichtig sind. Nicht wichtiger als die der anderen, aber genauso wichtig. Und wenn sich jemand über ihr „Nein“ hinwegsetzt, dürfen – sollten – sich zu wehren. Als Erwachsene stehen uns zum Glück meistens andere Möglichkeiten als Schlagen und Treten zur Verfügung. Wenn meine Kinder nicht kuscheln oder ausgekitzelt werden möchte, lasse ich sie sofort los und warte geduldig ab, bis sie von sich aus kommen um zu kuscheln oder ausgekitzelt zu werden. Ich sage ihnen aber auch, wenn ich gerade esse und dabei kein Kind auf dem Schoß haben möchte.

Wenn meine Kinder sich nicht in eine Geschlechterrolle pressen lassen wollen, sondern einfach tun und machen wollen, was ihnen gefällt, egal ob es momentan als ein „mädchending“ oder ein „jungending“ klassifiziert wird, dann werde ich versuchen, ihnen den Rücken zu stärken und die möglichen negativen Reaktionen mit ihnen zusammen richtig einzuordnen: als Engstirnigkeit der anderen. Zudem werde ich versuchen, diejenigen, die sich abwertend äußern, eine andere Sichtweise aufzuzeigen. Wenn man eine Meinung vertritt, heißt das ja nicht, dass sich diese Meinung nicht ändern kann. Schließlich sind wir alle „Opfer“ unserer Erziehung. Ich habe selbst viele Ideen und Meinungen erst anpassen können, nachdem andere sich die Zeit genommen haben, um mich auf Fehler hinzuweisen und mir ihre Sichtweise verständlich zu machen. Eine negative Haltung bedeutet nicht immer, dass die Person unfähig ist, umzudenken, sondern manchmal nur, dass sie sich mit einem Thema noch nicht richtig auseinander gesetzt hat, oder ihr Informationen fehlen.

Es gibt solche Kinder, die lieben Trubel und viele Menschen um sich rum, und jene, die wollen viel alleine sein. Auch bei Kindern sehen ich das: die einen rennen begeistert jedem Neuen entgegen, die anderen schauen erst einmal in Ruhe und laufen später hinterher. Das braucht man nicht zu bewerten. Und man braucht seine Kinder auch nicht anzuhalten, so oder so zu sein. Stattdessen sollte man sie einfach sie selbst sein lassen und sie dabei unterstützen heraus zu finden, was ihnen gut tut und wie viel Stimulierung sie brauchen. Sollten meine Kinder sich „anders“ verhalten, als andere Kinder, werde ich mich extra bemühen, ihnen nicht das Gefühl zu vermitteln, dass sie falsch sind und sie sich ändern müssen um der Mehrheit zu entsprechen. Wenn man nicht in ein System passt, kann es auch sein, dass das System einfach nicht gut ist 😉 Zum Beispiel Autismus. Erst nachdem es eine Bezeichnung, eine Diagnose gab, konnten Menschen mit Autismus besser verstanden und akzeptiert werden. Diagnosen haben natürlich teilweise wirklich Vorteile, weil man dann manchmal besser versteht, wie man einer Person helfen kann, sich zurecht zu finden. Manchmal sind Diagnosen absolut wichtig! Das Problem, was ich allerdings sehe ist, dass man oft erst eine Diagnose braucht, bevor das anders-sein akzeptiert wird. Ich finde, statt dass man sagen muss „Ich kann nicht anders, ich habe …, oder ich bin ein …“ sollte „Ich kann nicht anders, ich bin so, oder ich brauche das“ auch schon reichen, völlig losgelöst von einer Diagnose. Wie oft googlet man etwas und stellt erleichtert fest, dass das, was man selbst erlebt sogar eine Bezeichnung hat und es (vielen) andere Menschen genauso ergeht. Es hilft, es benennen zu können. Aber es sollte nicht erst „legitim“ werden, wenn es eine offizielle Bezeichnung gibt. Man sollte nicht das Gefühl haben müssen, man sei falsch, weil man so empfindet, wie man empfindet, bis es eine Diagnose gibt, die es rechtfertigt oder erklärt. Sollten meine Kinder also mal in irgendeiner Weise abweichen, ohne dass es dafür einen Term gibt, und es sie in ihrem Leben nicht einschränkt (sonst müsste man natürlich handeln), sondern nur etwas anders ist, hoffe ich, dass ich ihnen die Gewissheit geben kann, dass sie in Ordnung sind, so wie sie sind.

Zum Schluss

Wir leben in einer ungerechten Welt und es gibt viel zu tun. Ein Einzelner kann zwar nicht die ganze Welt retten, aber wenn jeder etwas tut, kommen wir immerhin weiter, als wenn wir es nicht einmal versuchen. Und dazu gehört manchmal unbequem zu sein. Nicht nur, um seine persönlichen Interessen zu verfolgen, sondern auch, um für diejenigen den Weg zu ebnen, die es selbst (noch) nicht können, oder sich (noch) nicht trauen. Manchmal ist der Gegenwind nur leichter Spott oder Unverständnis, manchmal sind die Reaktionen gravierend und sogar lebensgefährlich. Ich habe überlegt, ob ich nur über die kleinen, persönlichen Themen (zB kein Alkohol, Kleidung) schreiben soll, oder nur über die großen (zB. Homosexualität), denn beides nebeneinander zu stellen, kam mir seltsam vor. Homosexuelle, vor allem die ersten, die sich geoutet haben, waren oft massiver Gewalt ausgesetzt. Mein ledigliches genervt-sein, wenn Leute versuchten mich zum Alkohol trinken zu bewegen, wirkt dagegen völlig nichtig. Aber es war relativ einfach für mich, weil andere vor mir mir den Weg geebnet haben. Und viele homosexuelle Menschen können heute einen fast normalen Alltag haben, weil andere vor ihnen Vorarbeit geleistet haben. Aber weil auch sie heute offen zeigen, wer sie sind, auch wenn es vielleicht nicht immer als Anstrengung wahrgenommen wird, ebnen sie wiederum für andere den Weg, für die es wohl schwierig ist, ihr anders-sein zu zeigen.

Wir sind alle größtenteils gleich. Uns verbindet viel mehr, als was uns unterscheidet. Aber die Unterschiede dürfen und sollten ruhig gezeigt werden. Denn wenn anders als spannend und nicht als gefährlich wahrgenommen wird, können wir aufhören, uns zu verstecken, uns zu schämen, und so zu tun, als seien wir jemand, der wir nicht sind. Ich denke jeder hat etwas, was er nicht öffentlich zeigen möchte, über das er sich vielleicht nur mit den allerengsten Freunden, wenn überhaupt, zu sprechen traut. Ich finde das schade. Denn ich bin überzeugt, dass das Allermeiste, von dem wir annehmen, dass es nur uns selbst betrifft, und wir the odd one out sind, wahrscheinlich sehr vielen so ergeht, und wir alle versuchen ein Bild aufrechtzuerhalten, was falsch ist, nur um nicht als seltsam, als merkwürdig, als falsch wahrgenommen zu werden. Wenn du also feststellen solltest, dass dein Weg vom Mehrheitsweg abweicht, auch wenn es nur eine kleine Abweichung ist, die dir aber wichtig ist, dann ja, würde ich dir empfehlen, diesen Weg einzuschlagen und zu sehen, wohin er führt.

Deine RE