Wie frei sind wir eigentlich?

Wenn ich mein Leben betrachte, dann würde ich sagen, dass ich im Allgemeinen und vor allem im Vergleich zu vielen anderen Menschen sehr frei bin. Zum Beispiel konnte ich entscheiden ob und was ich studiere; wo, und sogar in welchem Land ich leben möchte; ich konnte meinen Partner selbst wählen und auch ob und wann ich heirate; ich konnte frei entscheiden ob und wie viele Kinder ich bekomme; und im Alltag kann ich auch einfach „Nein“ sagen, wenn ich etwas nicht möchte. Aber dennoch gibt es Barrieren, die mich in meiner Freiheit einschränken. Dabei denke ich nicht an physische Barrieren, Mauern oder dergleichen, sondern mentale Barrieren, die ich hier Fesseln im Kopf nenne: Glaubenssätze, die uns unnötig in unserer Freiheit beschränken. Oft haben wir sie so verinnerlicht, dass wir sie für wahr halten und uns ihnen bereitwillig unterwerfen. Stellen wir ihre Richtigkeit allerdings doch einmal in Frage besteht die Chance, dass wir diese mentalen Barrieren überwinden und so zu noch mehr Freiheit gelangen können.

Mentale Fessel Beispiel 1: Ohne Schminke bin ich hässlich

Eine meiner mentalen Fesseln war das Thema Schminke. Ich weiß nicht genau, wann ich damit anfing mich zu schminken, aber ich denke, dass ich vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt war. Zu meinem Standard-Programm gehörte Make-up, um meine Haut ebenmäßig aussehen zu lassen; Rouge, um meinem Gesicht wieder ein bisschen frische Farbe zu verleihen, nachdem das Make-up alles einfarbig gemacht hatte; Lippenstift, damit meine Lippen nicht so blass wirkten und Kajal, damit meine Augen schön zur Geltung kamen. Irgendwann schminkte ich mich täglich und so wurde mein geschminktes Gesicht im Lauf der Zeit zu meinem „richtigen“ Gesicht, und wenn ich mich morgens nach dem aufstehen im Spiegel betrachte dachte ich „Uff. Da müssen wir erst etwas machen.“ Ich hatte mich so an das geschminkte Gesicht gewöhnt, dass ich nicht ich selbst war, wenn ich mich nicht geschminkt hatte. Dann war ich hässlich und fad, wobei ich doch in Wirklichkeit schön war. Einmal ging ich ungeschminkt zur Schule und alle fragten mich, ob es mir nicht gut ginge, denn ich sei so blass. Ich habe damals nicht gedacht „Ich wirke blass, weil sie mich nur mit Make-up kennen und sie es nicht gewohnt sind meine helle Haut zu sehen.“ sondern „Ohne Make-up sehe ich kränklich und hässlich aus“. So wollte ich natürlich nicht wahrgenommen werden. Das ging so weit, dass ich mich ungeschminkt nicht aus dem Haus traute (ernsthaft!), und es mir äußerst unangenehm war, wenn plötzlich Besuch auftauchte und ich ungeschminkt zur Tür gehen sollte. Mich zu schminken war keine freie Entscheidung, denn mich nicht zu schminken war keine Option. Ich hätte mich gar nicht nicht schminken können.

Wie konnte es soweit kommen, dass ich mich nicht traute mein nacktes Gesicht der Öffentlichkeit zu präsentieren?

Wäre ich in einer Gemeinschaft aufgewachsen, in der sich niemand geschminkt hätte, wäre mir das sicherlich nicht passiert. Aber nicht-geschminkte Gesichter waren die Ausnahme. Meine Mutter schminkte sich; meine Freundinnen schminkten sich; die meisten Frauen um mich herum schminkten sich; in Filmen, Fernsehen und Zeitschriften waren ausschließlich geschminkte Frauen zu sehen. Mit meinem ungeschminkten Gesicht konnte ich im Vergleich nicht mithalten, und wenn ich als schön – oder zumindest nicht hässlich – wahrgenommen werden wollte, musste ich nachhelfen. Ich hatte wohl Glück, dass meine Mutter mich nur ermutigte („Du hast so schöne Augen und einen so tollen Mund, wenn du sie nur etwas betonen würdest, würde das umwerfend aussehen“), denn eine damalige Freundin wurde von ihrer Mutter mit den Worten „Wenn du dich nicht schminkst, nehme ich dich nicht mit zum shopping“ dazu gezwungen sich zu schminken. (Ich dachte erst sie hätte gesagt „Wenn du dich schminkst, nehme ich dich nicht mit“ aber es war genau anders herum.) Ich bekam zudem positives Feedback: Mir wurde gesagt oder durch zum Beispiel Flirten mitgeteilt, dass ich gut aussehen würde und ich wollte mir und der Welt dieses Bild erhalten. Ich wollte schön sein und hatte Angst davor, dass Leute, wenn sie mich ungeschminkt sehen würden, feststellen könnten, dass ich ja eigentlich gar nicht so gut aussehen würde, und in Wahrheit alles mehr Schein als Sein war.

Es gab jedoch 4 Aspekte, die mir dabei geholfen haben mich der Schmink-Fessel zu entledigen:

1) Wut

Zum einen wuchs meine Wut darüber, dass Frauen sich schminken mussten, Männer aber nicht. Männer durften ihr nacktes Gesicht zeigen, aber das Gesicht einer Frau war nicht in Ordnung? Es musste erst geglättet und bemalt werden, bevor es der Öffentlichkeit präsentiert werden konnte? Diese Ungerechtigkeit machte mich sauer und ließ mich erkennen, dass hier etwas nicht stimmen konnte, nicht stimmen durfte. Zum anderen empfand ich Wut darüber, dass es der Kosmetikindustrie, der Werbung und den Medien gelungen war den Gedanken in meinem Kopf zu verankern, dass ich Schminke brauchte um „normal“ auszusehen und um mich in der Öffentlichkeit frei bewegen zu können. Dass ich mich dermaßen in meiner Freiheit habe einschränken lassen, und dass ich mich dem jahrelang unterworfen habe, erzürnte mich zusätzlich.

2) Wenn ich ganz allein auf der Welt wäre?

Die Frage „Was würde ich tun, wenn ich alleine auf dem Planeten wäre“ hilft mir oft dabei darüber zu entscheiden, ob ich etwas wirklich selbst will, oder ob ein etwaiger Druck von außen auf mich wirkt. Die Frage, ob ich mich weiterhin schminken würde, musste ich mit „Nein!“ beantworten. Solange ich nicht in einen Spiegel schaute, konnte ich ja einfach so tun, als sei ich hübsch, und bräuchte dann auch kein Make-up (Darüber wütend zu sein, dass ich mir hatte einreden lassen, dass ich ohne Schminke hässlich war reichte nicht um meine Wahrnehmung diesbezüglich auf Anhieb zu verändern). Wenn ich also im Allein-Fall keine Schminke tragen würde, im echten Leben aber wohl, musste irgendein Druck auf mich wirken, der mich dazu veranlasste, entgegen meinem eigenen Wunsch doch Make-up aufzulegen.

Ich verstand nun, dass ich eigentlich gar kein Make-up tragen wollte, denn zum einen war es unglaublich unfair, dass ich mich dermaßen unter Druck gesetzt fühlte mich zu schminken, nur weil ich eine Frau war, und zum anderen begriff ich, dass ich es nicht tun würde, wenn ich alleine wäre. Da es mir wichtig ist den Einfluss von außen, wo es möglich ist, zu begrenzen, verstand ich, dass ich mich dem gefühlten Druck entgegen stemmen musste. Ich wollte also von der Schminke weg, aber das war gar nicht so einfach. Es war nicht so, dass ich plötzlich dachte „Alles quatsch, du bist auch ohne Schminke schön, du brauchst das alles gar nicht.“ Im Gegenteil. Ich war davon überzeugt ohne Schminke ganz schlimm auszusehen, und meine ersten Versuche ungeschminkt in die „Öffentlichkeit“ zu gehen, führten mich weit weg von zuhause in die Natur, wo mich bestimmt niemand sehen würde, der mich kannte. Und immer wenn ich jemandem begegnete dachte ich „Der sieht mich an und denkt sicher, dass ich krank und hässlich aussehe.“ Mein gesamter Fokus war auf mein Gesicht und auf die Reaktionen der anderen gerichtet. Und alle Reaktionen waren negativ, mussten es sein, zumindest sah so die Realität in meinem Kopf aus. Es war eine echte Qual! Ich fühlte mich miserabel und war froh, wenn ich wieder zuhause und alleine war. Ich stellte fest, dass ich mich nicht einfach nicht schminken konnte und beschloss, Schritt für Schritt die Schminke zu reduzieren. Erster Schritt: Meine Augen ungeschminkt zu lassen. Das war schon heftig, war ich es doch gewohnt, dass meine Augen dunkel umrandet waren. Plötzlich waren sie so fad. Aber egal, ich hatte ja noch meine Lippen. Es dauerte lange, aber irgendwann hatte ich mich an meine Augen gewöhnt. Nächster Schritt: Lippenstift weglassen. Jetzt sah ich schon fast ungeschminkt aus. Das Make-up und bisschen Rouge ging als „natural look“ durch. Ich sah noch okay aus, denn immerhin sah meine Gesichtshaut ebenmäßig und frisch aus, und damit konnte ich leben.

3) Make-up zu küssen ist nicht schön

Zu dieser Zeit lernte ich meinen jetzigen Mann kennen. Und der sagte mir irgendwann einmal, dass er es eigentlich nicht so schön fand, statt meine Wangen das Make-up und Rouge auf meinen Wangen zu küssen. Und ich überlegte und stellte fest, dass ich es selbst auch nicht prickelnd finden würde, wenn er Make-up tragen würde und ich ständig das Make-up an meine Lippen bekäme. Ich ließ dann auch Make-up und Rouge weg und fand mich nicht schön. So ein ausdrucksloses, fades Gesicht sollte meins sein? Puh! Aber gut, dann war es eben so. Ich war nicht schön, aber immerhin war ich endlich diese Schminke los. Kein all-morgendliches Schminken, kein all-abendliches Abschminken: War das schön! Ich mochte noch nicht zu lange mein Gesicht ansehen, aber dass ich weder Schminke kaufen, noch es auf- und abtragen brauchte, war schon nett. Außerdem hatte ich – seit ich meine Augen nicht mehr schminkte – morgens auch keine verquollenen Augen mehr. Ich hatte immer gedacht, dass sie durch die Hausstaub-Milbenallergie bedingt waren und stellte dann erst fest, dass es durch den Kajal kam. Jahrelang verquollene Augen! Herrje!

4) In fünf bis zehn Jahren bin ich heute schön

Vor einer Weile ist mir aufgefallen, dass wenn ich mir Fotos von früher ansehe, ich mich selbst schön finde, dabei weiß ich, dass ich mich damals ganz und gar nicht schön gefunden habe. Und ich frage mich, warum ich bloß so kritisch war. Warum war mir damals nicht aufgefallen, dass ich gut aussah? Warum habe ich bloß immer nur vermeintliche Makel gesehen? Und trotzdem, wenn ich dann neuere Fotos von mir selbst sah oder mich im Spiegel betrachtete war da immer noch die Neigung genau diese vermeintlichen Makel in den Fokus zu setzen. Wahrscheinlich, dachte ich, werde ich in fünf oder zehn Jahren auf die Fotos von heute zurückblicken und denken: Warum war ich bloß so kritisch? Ich habe doch toll ausgesehen! Und ich fragte mich warum ich fünf oder zehn Jahre warten soll, bis ich mich so positiv betrachte. Das ist doch Schwachsinn! Ich überspringe einfach die Jahre, höre auf mich kritisch zu prüfen, sehe einfach was ist, nämlich mein einzigartiges Gesicht, mit all den Unebenheiten, Fältchen, Rötungen, aber auch mit den großen Augen, vollen Lippen, dem freundlichen Lächeln (zumindest wenn ich gut drauf bin), einfach mein Gesicht, und erfreue mich daran, schon jetzt. Auch ist mir aufgefallen, dass wenn ich mir vorstelle, ich würde das Gesicht einer anderen Person betrachten, ich es viel weniger kritisch und viel wohlwollender ansah. Wieso glauben wir bloß ständig mit uns selbst so verdammt kritisch sein zu müssen? Ich habe jedenfalls beschlossen, genau diesen Blick für mich selbst beizubehalten und mich nicht mehr beirren zu lassen.

Mein Schönheits-Verständnis hat sich verändert. Entsprach es zuvor der Ideal-Standard-Schönheit, die darauf abzielt, uns alle in das gleiche Förmchen zu pressen, sodass wir alle gleich aussehen, schätze ich jetzt die Authentisch-Vielfalt-Schönheit, die in jedem Menschen Schönheit findet, weil jedes Gesicht einzigartig ist. Mit diesem Verständnis fällt es mir leicht in den Spiegel zu blicken und mich schön zu finden, und dieses gelassene Gefühl hat sich auf meinen gesamten Körper ausgedehnt.

Mentale Fessel Beispiel 2: Ich bin gar nicht so klug, aber das darf niemand wissen

Ich musste mich dazu überwinden, etwas, das ich geschrieben hatte, auf der Webseite zu veröffentlichen, denn ich befürchtete, dass jene, die mich kennen, die Texte lesen und feststellen könnten, dass ich ja gar nicht so gescheit bin, wie sie gedacht hatten. Wie beim Thema mit der Schminke wollte ich das gute Bild, dass sie von mir hatten, nicht kaputt machen. Ich dachte also, dass wenn ich einen Text veröffentliche, dieser Text einwandfrei sein muss. Das Problem war nur, dass ich nicht sagen konnte, ob der Text wirklich gut, okay, oder eben nicht gut war. Und jedes Mal wenn ich den Text las, an dem ich gerade arbeitete, gefiel mir dieses oder jenes noch nicht und ich dachte immerzu, dass der Text noch präziser, noch deutlicher werden müsste, bevor ich ihn „der Welt“ präsentieren konnte. Zudem war es wichtig, dass ich den Artikel ganz alleine in eine perfekte Endfassung zu bringen wusste. Ich musste all das ganz alleine schaffen, nur dann war sichergestellt, dass ich es auch wirklich drauf hatte. Aber so machte das Schreiben keinen Spaß mehr. Ich drehte mich im Kreis, weil ich das Gefühl hatte der Text könnte unmöglich je richtig gut sein, und so ließ ich verschiedene angefangene Artikel immer wieder ruhen und fing an einen neuen Artikel zu schreiben, mit letztendlich immer dem gleichen Problem. Wenn ich dann doch einen Artikel veröffentlichte wartete ich immer ungeduldig auf das erste Feedback um zu erfahren, ob ich den Artikel schnell wieder entfernen und erst noch einmal überarbeiten sollte, oder ob er so in Ordnung war und ich mich seiner nicht zu schämen brauchte. Und als mir das endlich richtig bewusst wurde, dass die Sorge um mein Image nach außen mich davon abhielt das zu tun, was ich eigentlich tun wollte, nämlich Texte zu schreiben und zu veröffentlichen, erkannte ich, dass ich daran etwas ändern musste. Wie bei vielen anderen Themen wurde auch hier wieder deutlich, dass ich versuchte, mein Selbstbild zu schützen. Wenn ich nichts veröffentliche, kann auch niemand sagen, dass das, was ich schreibe, schlecht ist, und ich bewahre anderen und mir selbst die „Illusion“, dass ich ganz wunderbar, klar und strukturiert schreiben kann. Mir fiel zudem auf, dass ich mir selbst unglaublich im Weg stand. Wenn ich nicht offen stehe für negative, bzw. konstruktive Kritik, kann ich unmöglich meine Technik je verbessern. Dann kann ich zwar so tun, als könnte ich gut schreiben, bleibe aber immer auf demselben Level stehen. Viel sinnvoller wäre es, das, was ich schreibe so vielen Menschen wie möglich zu zeigen und so viel (nützliches) Feedback wie möglich zu erhalten, um so meine Schreibkunst tatsächlich zu verbessern. Mein eigentliches Ziel, anderen Menschen durch mein Schreiben etwas mitzuteilen war in den Hintergrund getreten und stattdessen wurde das Schreiben zu einem Instrument um mich zu profilieren. Oder eben auch nicht, schließlich fürchtete ich mich davor mich angreifbar zu machen, und scheute davor zurück viel zu veröffentlichen. Es war also wichtig mich darauf zu besinnen, warum ich in erster Linie die Webseite erstellt hatte: 1) Anderen meine Gedanken uns Ansichten mitzuteilen, von denen ich annahm, dass sie den ein oder anderen interessieren könnten. 2) Meinen Schreibstil zu verbessern.

Es ging nicht darum auf Anhieb perfekte Artikel zu schreiben, sondern die Webseite zu nutzen, um immer wieder zu üben und zu lernen, was funktioniert und was nicht. Mich auszuprobieren, und vor allem: Feedback zu erhalten und gegebenenfalls meine Artikel entsprechend zu überarbeiten, oder neu Gelerntes in folgende Artikel einfließen zu lassen. Für mich war wichtig den Fokus weg von mir selbst zu bringen, und hin zum Mehrwert-für-andere-Gedanken. Wenn es vor allem darum geht Mehrwert zu schaffen, sollte ein Artikel zwar durchdacht, muss aber nicht mehr 100% perfekt sein. Es geht mehr um den Inhalt, statt darum, dass ich als besonders gescheit wahrgenommen werde. Und ich dachte, wenn jemand meinen Artikel liest und feststellt, dass sie/er den Gedanken besser herausarbeiten kann und sie/er schreibt dann selbst einen Artikel, der dann wieder herum vielen anderen Menschen etwas Brauchbares übermittelt, dann wäre das wunderbar. So habe ich ein Stück beigetragen und mit dafür gesorgt, dass etwas, wovon andere Menschen profitieren, in die Welt hinaus getragen wurde. Und darum geht es doch! (Ich denke nicht, dass meine Artikel zurzeit viele Menschen erreicht, aber der Gedanke zählt).

Bye, bye Ego

Ich denke, dass bei (fast) allen mentalen Barrieren der Schutz des Egos eine zentrale Rolle spielt. Wenn ich mich unter anderem darüber definiere schön und/oder klug zu sein, werde ich mich anstrengen, genau so auch wahrgenommen zu werden. Und alles, was dieses Selbst-/Bild ins Schwanken bringen könnte, zu vermeiden. Wenn mein Ego sich darauf stützt hübsch zu sein, werde ich besonders darauf achten, auch hübsch herumzulaufen. Wenn mein Ego sich darauf stützt klug zu sein, schmerzt es mehr wenn man Fehler macht oder nicht genug zu leisten glaubt. Wenn sich jemandes Ego darauf stützt beliebt zu sein und ein anderer verhält sich ablehnend, kann ihn das besonders kränken. Wenn das Ego sich darauf stützt besonders stark und unabhängig zu sein, wird man vor allem Probleme damit haben, sich Schwächen einzugestehen oder auf andere angewiesen zu sein. Wir verwenden so viel Energie darauf unser Ego und damit unseren Selbstwert zu beschützen, dass wir uns oftmals nicht mehr frei entscheiden und frei bewegen können. Wir begrenzen uns selbst auf einen kleinen Rahmen der Möglichkeiten um einem Bild zu entsprechen, das wir von uns selbst haben oder glauben, dass andere es von uns haben. Was aber passiert, wenn wir erkennen, dass viele unsere Gewohnheiten, automatischen Reaktionen, und Trigger, die uns dazu bringen in Verteidigungsmodus zu gehen, sich alle nur darum drehen etwas zu beschützen, das lediglich ein mentales Konstrukt ist? Nun, dann können wir uns überlegen, ob es nicht vielleicht an der Zeit ist aufzuhören einem „Ideal“ nachzueifern, und so viel Energie und Zeit in die Verteidigung eines Bildes zu stecken, und stattdessen lernen uns selbst wirklich anzunehmen. Statt also zu denken „Ich muss so schön sein, wie das Bild, das ich oder andere von mir habe/n!“ könnten wir denken „Ich bin so schön, wie ich schön bin.“ Oder statt: „Ich muss besonders klug sein, oder zumindest besonders klug erscheinen, damit andere mich bewundern“ könnte ich auch einfach die Achseln zucken und denken „Ich bin so klug, wie ich klug bin.“ Das geht mit allem anderen genauso: „Ich bin so stark, wie ich stark bin. Ich bin so schwach, wie ich schwach bin. Ich bin so nett wie ich nett bin. Ich bin so chaotisch, wie ich chaotisch bin.“ Schlussendlich: „Ich bin so wie ich bin.“ Wenn man die ganzen Bilder abwirft und einfach danach schaut, was da ist, ohne zu urteilen, ob das nun gut oder schlecht ist, sondern einfach anerkennt, dass es ist und dass man selbst ist, dann kann man aufhören die Energie und Zeit in die Aufrechterhaltung eines Bildes zu stecken und einfach leben. Ernsthaft, das geht!

Statt zu denken: Ich muss aber strukturiert und ordentlich sein und alles können, denke ich jetzt: „Mh, wenn ich mich hier so umsehe, dann stelle ich fest, dass mir Ordnung nicht ganz so wichtig zu sein scheint.“ Oder „Ich sollte wohl dies oder jenes tun, tue es aber nicht. Anscheinend setze ich andere Prioritäten oder habe andere Interessen oder andere Bedürfnisse“ Statt zu denken: „Oh man, wieso kann ich nicht endlich mal so oder so sein, das oder das gebacken kriegen, nur ein bisschen mehr dies oder jenes“, betrachte ich nun interessiert mein Handeln und versuche daraus abzuleiten, wer ich tatsächlich bin, was ich will und was ich brauche, statt zu versuchen einem Bild gerecht zu werden. Statt zu urteilen versuche ich einfach nur festzustellen und anzuerkennen. Und wenn ich das bei mir selbst übe, kann ich das auch bei anderen: Statt zu denken „Die macht es richtig, der macht es falsch“, übe ich mich in dem Gedanken „Aha, interessant: Sie macht es so, er macht es so.“

Mentale Barrieren zu erkennen ist manchmal gar nicht so einfach, weil sie sich irgendwann einschleichen und unser Handeln beeinflussen, welches bald darauf zur Gewohnheit wird. Ich glaube schon, dass es mir immer leichter fällt diese Barrieren zu erkennen und auch zu überwinden, weil ich gelassener mit mir selbst und meinen „Schwächen“ werde. Vor allem, wenn mir auffällt, dass ich eigentlich etwas tun möchte, aber die Anwesenheit anderer mich davon abhält, stelle ich mir schon mal schneller die Frage „Welches Bild von mir möchte ich aufrecht erhalten, was genau probiere ich zu schützen (nur mein Ego?), und ist es wirklich notwendig?“ Aber manchmal bedarf es auch eines kleinen Schubsers von außen, wie neulich, als ich meiner Schwester erzählt habe, dass ich im Garten nicht im Bikini herumlaufen wollte, weil mich dann Nachbarn und Spaziergänger sehen könnten. Sie war überrascht, dass mir das nicht egal war, und ich überlegte, was mich zurückhielt. Ich denke, dass ich befürchtete, dass ich meinen entspannten Blick auf meinen Körper nicht aufrecht erhalten können würde, wenn ich mich durch die Augen anderer betrachtete. Ich wäre gezwungen mich mit dem auseinanderzusetzen, was andere sehen könnten. Zum Beispiel könnten sie denken, dass ich wohl Eiscreme oder Entspannung auf dem Sofa dem Yoga Training gerade den Vorzug gab. Das wäre nicht vereinbar mit dem Bild, von dem ich wünschte, dass andere es hätten: Sporty-Ich. Aber wäre es falsch? Nein, es wäre genau richtig! Mein Bild ist eher Wunschdenken. Wenn ich jetzt jedoch einfach sehe was ist, und mich annehme wie ich bin, mich also von dem Bild verabschiede und die Realität begrüße, dann kann ich mich meiner mentalen Fessel entledigen. So war es mir dann doch noch möglich entspannt das Wasserspiel mit meinen Kindern zu genießen, sogar mit Haaren an den Beinen und ungeschminkt, aber mit zwei lachenden Kindern, mit denen zusammen ich schöne, neue Erinnerungen sammeln konnte. Und so es ist mir nun möglich einen nicht perfekten Artikel zu veröffentlichen, weil ich nicht mehr das Gefühl habe, mich beweisen zu müssen, sondern mich nun auf Feedback und Kritik, die mich weiterbringt, freue!

PS: Ich hätte noch eine Menge anderer Beispiele geben können, aber ich wollte diesen Artikel „kurz“ halten 😉 Falls du bei dir selbst mentale Barrieren entdeckst, die dich davon abhalten das zu tun, was du eigentlich tun möchtest, dann drücke ich dir die Daumen, dass du es schaffst dir deine Freiheit zurückzuerobern.

Mit besten Grüßen,

RE