…und ihre Bedeutung für die weibliche Sexualität
Wenn dein Sexualkunde-Unterricht in etwa so aussah, wie meiner, dann hast du auch Übungsblätter bekommen auf denen die männlichen und weiblichen Sexualorgane dargestellt waren, die man dann nacheinander richtig benennen sollte. Fandest du nicht auch, dass Frauen im Vergleich zum Mann, in Hinsicht auf Erregung und Lust, den Kürzeren zogen? Der Mann hatte die deutlich sichtbaren Geschlechtsorgane, Hoden und Penis, und der Penis schwoll bei Erregung auch noch an und wurde größer. Die Frau hatte… man fand ihn nach einigem Suchen, diesen kleinen Punkt, die Klitoris. Nicht sonderlich beeindruckend, oder? Frauen hatten zwar eine Gebärmutter um Babies auszutragen, aber beim Thema Erregung und Lust schienen die Männer irgendwie besser ausgestattet zu sein. Es schien nicht sehr wahrscheinlich, dass Lust und Wonne bei Mann und Frau ähnlich intensiv sein konnten, wenn dem Mann die ganze Länge seines Penis zur Verfügung stand, und der Frau einzig dieser kleine Punkt.
Die Spitze des Eisbergs
Viele, viele Jahre später dann „die Neuigkeit“! Das was wir als „die Klitoris“ kennengelernt haben, ist nur die Spitze des Eisbergs, nämlich die Klitoris-Eichel. Die Klitoris-Eichel ist allerdings nur der von außen sichtbare Teil der Klitoris. Hinzu kommen noch die Schenkel, die um die Vagina herum verlaufen, und zwei Schwellkörper, die unterhalb der Vulvalippen liegen. Die gesamte Klitoris ist nicht 1-2 cm, sondern stolze 9-11 cm lang!

Zum Vergleich hier noch einmal ein Bild, das wir so oder so ähnlich wohl alle gut kennen: Die Frau mit lediglich einem „Punkt“. Es ist schockierend! Und so wird es leider in den meisten Fällen immer noch gelehrt! Die ersten Verlage überarbeiten inzwischen ihre Bücher. Mal sehen wie lange es dauert, bis das Bild oben überall angekommen ist und das Bild unten der traurigen Vergangenheit angehört.

Warum es wichtig ist die Anatomie der Klitoris zu kennen
Erst im Laufe der Embryonalentwicklung differenzieren sich die Geschlechtsorgane von Mann und Frau. Das Ausgangsmaterial ist jedoch das gleiche, welches dann eine etwas andere Form annimmt. Es überrascht daher nicht, dass Anatomie, Funktionsweise, und eben auch Lustempfinden von Klitoris und Penis sehr ähnlich sind. Die Schwellkörper der Klitoris schwellen bei Erregung genauso an wie der Penis und werden größer. Sie lassen sich im erregten Zustand gegebenenfalls sogar von außen beobachten, wenn sie sich unter der Haut der Vulvalippen abzeichnen. Das bedeutet, dass die Frau ein genauso lustvolles Wesen ist bzw. sein kann, wie der Mann. Und statt eines winzigen Pünktchens steht der Frau ein ganzes, großes Organ zur Verfügung. Dem einzigen Organ im menschlichen Körper übrigens, dessen einziger Zweck es ist Vergnügen zu bereiten und Lust zu gewinnen.
Jetzt da die Anatomie der Klitoris bekannt ist, wird auch deutlich, dass es den „vaginalen“ Orgasmus gar nicht gibt. Wenn eine Frau durch Penetration allein einen Höhepunkt erlebt (und das klappt nur bei einer Minderheit), ist es dennoch die Klitoris, die diesen ermöglicht, da hierbei die Klitoris, genauer gesagt deren Schwellkörper, über die Innenseite der Vagina stimuliert wird/werden. Ein vaginaler Orgasmus ist also faktisch immer ein klitoraler Orgasmus. Dabei ist zu beachten, dass der untere Teil der Vagina, nahe der Öffnung, hierbei die wichtige Rolle spielt, und der Rest der Vagina weitaus weniger zur Erregung beiträgt.
Warum ist die weibliche Sexualität dann so „kompliziert“?
Leider gibt es viele Faktoren, die der Auslebung einer entspannten und lustvollen Sexualität im Weg stehen. Das sind zum einen Unkenntnis über die Anatomie, aber auch Scham, Tabus und Fehlinformationen rund um Sexualität. Es gibt nur wenige, die offen über Sexualität sprechen, aber dennoch sollen alle irgendwie ganz intuitiv wissen, wie „es“ geht.
Beispiel Penetration
Wie wir inzwischen wissen, ist ein vaginaler Orgasmus eigentlich ein klitoraler Orgasmus. Aber nicht alle Frauen können durch Penetration allein einen Orgasmus bekommen. Das hängt davon ab, wie die jeweilige Klitoris und Vagina zueinander liegen. Wenn Frauen nun probieren einen „vaginalen“ Orgasmus zu erlangen und es klappt nicht, könnten sie glauben, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Das ist aber nicht der Fall. Sie gehören sogar zur Mehrheit der Frauen, die eine andere Form der Stimulation brauchen, um den Höhepunkt zu erreichen.
Beispiel Masturbation
Frau und Mann lernen am besten, was ihnen selbst gefällt, wenn sie erst einmal für sich alleine ihren Körper erkunden. Während Masturbation leider noch oft bei beiden Geschlechtern ein Tabu ist, wird sie bei Männern schon eher akzeptiert. Viele Frauen erleben ihre ersten sexuellen Erfahrungen jedoch erst mit einem Partner/einer Partnerin. Masturbation ist bei Frauen immer noch oft etwas, das nicht selbstverständlich ist. Und dabei haben sie ein wundervolles Organ, das nur dazu dient, ihnen gute Gefühle zu verschaffen.
Beispiel Scham
Viele Frauen fühlen sich unsicher in Bezug auf ihren Körper. Das gilt zwar sicher auch für Männer, aber vor allem was die Vulva betrifft gibt es viele Verschämtheit. Weibliche Sexualität ist so mit Mythen und Falschinformationen behaftet, dass es kein Wunder ist, dass Frauen sich vieler Dinge schämen, die eigentlich normal und natürlich sind.
Die Werbung suggeriert, dass wir unsere Vagina waschen müssen, damit sie „frisch“ duftet. Das ist Blödsinn! Die Vagina reinigt sich selbst und Reinigungsversuche können leicht das sensible Gleichgewicht zerstören. Und dann fängt der „Spaß“ erst wirklich an, weil die Vagina dann für Krankheiten anfällig ist. Auch während der Menstruation sollen Frauen darauf achten, bloß nicht zu riechen. Dafür gibt es denn Binden mit Frischeduft. Wer achtet bei Nasenbluten auf Frischeduft? Niemand. Aber wenn es unten raus kommt, ist es ekelhaft, und Frau muss sich schämen.
Wir lernen, dass Frauen große und kleine Schamlippen haben. Schamlippen! Und Frauen, deren innere Vulvalippen größer sind als die äußeren fangen an zu glauben, dass bei ihnen etwas nicht stimmt. Gerade Pornos helfen da nicht, denn da wird anscheinend vor allem eine Standard-Vulva gezeigt, die den Abbildungen aus den Büchern gleichen. Zum Glück gibt es inzwischen die „great wall of vagina“, die Frauen und Männern zeigt, dass Vulven, wie Penisse, in vielen Formen und Größen existieren. (Übrigens auch Farben.)

Beispiel Fehlinformation
Es heißt die Anatomie der Klitoris sei erst 1998 vollständig entdeckt worden, andere Quellen legen jedoch nahe, dass die Klitoris schon früher in ihrer ganzen Größe entdeckt wurde. Warum dieses Wissen wieder in der Versenkung verschwand? Gute Frage! Aber die Tatsache, dass lediglich etwa 50% der Bevölkerung eine Klitoris besitzt, schien nicht ausreichend, um diese Erkenntnis der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Nicht-Beachtung war allerdings nicht das Schlimmste. Was alles über die Klitoris behauptet wurde, und was Frauen so alles eingeredet wurde, ist echt widerlich. Hier ein interessanter Artikel dazu https://www.entitymag.com/clitoris-history/.
Beispiel Objektifizierung
Obwohl der Körper der Frau ständig in sexuellen Kontexten gezeigt wird, ist Frau selbst selten handelndes, lustvolles Subjekt. Frauen sollen schön und attraktiv sein, aber wenn eine Frau öffentlich darüber spricht, gerne Sex zu haben und viel Sex zu wollen, bekommt sie schnell ein negatives Stigma aufgedrückt. In den Köpfen von Männern und Frauen wird eine lustvolle Frau schnell zur Schlampe. Dass sie aus sich selbst heraus Spaß an Sex hat ist zudem nicht vorstellbar, stattdessen „lechzt sie nur nach männlicher Anerkennung“.
Hinzu kommt dass wir vor allem sehen und hören, dass der Mann Sex hat, und dass der Frau Sex passiert. Im Porno wird die Frau vor allem dafür „benutzt“ dem Mann Lust zu bereiten. Wir hören zudem vor allem dann von sexuellen Handlungen, wenn von Grenzüberschreitungen und Missbrauch gesprochen wird, also dann, wenn es falsch läuft. Da wir nicht über die positiven Seiten von Sex sprechen und wir in Sexszenen im Film immer nur den „für beide Seiten erfüllenen Penetrationsakt“ sehen, entsteht ein ziemlich verzerrtes Bild darüber, was Sexualität ist beziehungsweise sein kann.
Beispiel Zwischen den Ohren
Weibliche und männliche Erregung und Lust kann unterschiedlich sein. Während viele Männer gut auf visuelle Reize reagieren, werden viele Frauen anscheinend sehr gut durch sexuelle Phantasien erregt. Ein großer Teil der weiblichen Sexualität spielt sich in ihren Köpfen ab. Das bedeutet, dass Stimulation der Klitoris alleine eben auch nicht immer zum erfüllenden Sex führt. Viel von dem Sex, den wir sehen, den wir kennen, berücksichtigt das aber überhaupt nicht. Wenn Frau das aber weiß, und ihr Partner/ihre Partnerin darauf eingeht, kann der Sex für alle Beteiligten wirklich erfüllend sein. Dass es lange dauert, bis eine Frau einen Orgasmus erreicht ist übrigens nicht richtig. Viele Frauen berichten bei der Masturbation keine Probleme zu haben schnell Orgasmen zu erreichen. Deswegen sollte Frau nicht versuchen müssen, schneller zum Orgasmus zu kommen. Stattdessen sollte bei sexuellen Begegnungen viel mehr auf die unterschiedlichen Bedürfnisse eingegangen werden, statt einem vorgefassten Muster zu folgen und einem Bild von Sex nachzustreben.
Beispiel Unerwünschte Schwangerschaft
Zu all dem oben genannten kommt auch noch die Angst vor einer ungewünschten Schwangerschaft hinzu, die Frau leider immer noch viel zu oft alleine trägt. Nimmt Frau die Pille, können diese Hormone ihre Libido ordentlich mindern. Und wenn sie die Pille nicht nimmt, bleibt bei Kondom und Co (aber natürlich auch bei der Pille) immer ein Restrisiko auf eine ungewünschte Schwangerschaft. Wenn im Fall der Fälle eine Abtreibung nicht in Frage kommt, bedeuten die Schwangerschaft und Mutterschaft in vielen Fällen eine enorme Belastung und das Ende so mancher Träume. Kommt eine Abtreibung wohl in Frage ist sie dennoch oft eine enorme körperliche und psychische Belastung, weil auch hier wieder Scham, Schuld und Tabu spielen, die Frau zumeist alleine aushalten muss.
Was können wir tun?
Bei all diesen Einflüssen ist es wenig verwunderlich, wenn Frau irgendwann das Interesse an Sex verliert oder seltener als der Mann sexuelle Lust verspürt. Zum einen ist oft weder ihr noch ihrem Partner/ihrer Partnerin wirklich deutlich, was ihr tatsächlich Lust bereitet, zum anderen ist Sexualität oft mit Negativbeispielen und negativen Konsequenzen für die Frau assoziiert. Es gibt aber Wege, dass alle Geschlechter zu einer erfüllten Sexualität gelangen können, aber das fragt ein bisschen Einsatz und eventuell Überwindung:
- Über Sex sprechen. Mit dem Partner, aber auch mit Freunden und Freundinnen. Sex darf kein Tabu mehr sein. Wenn wir endlich damit beginnen uns über dieses Thema auszutauschen, ohne Scham und Verlegenheit, dann können wir so viel voneinander lernen. Zudem können wir auch viel eher verstehen, dass das, für das wir uns vielleicht schämen, wahrscheinlich etwas völlig Normales ist.
- Masturbation. Ob ohne oder mit Beziehung, jeder sollte seinen Körper ganz alleine erkunden und lieben lernen. Es ist nicht leicht sich von all den Dingen zu lösen, die einem über Jahre eingeflüstert wurden, aber es wäre doch schade, wenn man ein Organ völlig vernachlässigt, dass nur für das eigene Vergnügen zuständig ist.
- Informieren. Es gibt bereits gute Bücher über die Sexualität von Mann und Frau, die mit vielen Mythen aufräumen und Mut machen, sich selbst und einander Lust zu bereiten, und Tipps und Tricks verraten, wie es klappen kann.
- Nächste Generationen: Ich hoffe, dass die Mädchen heute nicht mehr lernen, dass ihr Hymen „reißt“, wenn sie das erste Mal Penetrations-Sex haben (das stimmt nicht!), oder dass sie ihre Jungfräulichkeit „verlieren“, als sei sie etwas, das über ihren Wert bestimmt. Ich hoffe, dass heutige und zukünftige Generationen von Mädchen und Jungen wirklich offen und ohne Scham über ihre Körper und ihre Lust sprechen können. Um das zu erreichen, sollten wir anfangen, Sex nicht mehr als etwas zu behandeln, über das – wenn überhaupt – nur hinter verschlossenen Türen gesprochen werden darf, sondern etwas ist, das wunderschön und erfüllend sein kann, für alle Beteilligten. Und dass man nicht falsch ist, wenn etwas noch nicht klappt, sondern einfach noch in Erfahrung bringen muss, was sich für einen selbst gut anfühlt. Wenn wir jetzt anfangen, wird es für folgende Generationen leichter sein Sex als das zu sehen, was es sein sollte: die schönste Nebensache der Welt!
Und weil sie so schön ist, noch einmal:

Falls ihr irgendwo eine Penis-Zeichnung seht, könnt ihr jetzt eine wunderschöne Klitoris daneben malen. Auf einem T-Shirt macht sie sich sicher auch toll…und ein guter Eisbrecher wäre das außerdem auch… 😀
Mit lieben Grüßen,
RE
https://www.huffpost.com/entry/cliteracy_n_3823983
https://de.wikipedia.org/wiki/Klitoris
https://www.anatomyofpleasure.org/over-the-skin-what-you-can-see
Ach gebt einfach Klitoris/clitoris in eine Suchmaschine ein (Empfehlung für die Suchmaschine: duckduckgo, nicht google). Happy further reading 🙂
Beitragsbild: 3D Model von Odile Fillod
